Bayern München:Absturz der Vielflieger

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Die Bayern laufen Gefahr, ihre Aussichten auf die Meisterschaft wie im Vorjahr schon in der Hinrunde zu verspielen.

Von Klaus Hoeltzenbein

Zur Halbzeit nur diese eine, beängstigende Frage: Kommen die womöglich wieder aufs Feld zurück? Oder hat Schiedsrichter Manuel Gräfe ein Einsehen und stellt die Bemühungen wegen Belanglosigkeit ein? Zumal auch er während dieser als Fußballspiel getarnten Kakophonie an seine Leistungsgrenze (zwei unfreiwillige, urkomische Ballkontakte) geraten zu sein schien.

Lange Gesichter auf der Bayern-Bank. (Foto: Foto: AP)

Die Proteste hätten sich in Grenzen gehalten, hätten der FC Bayern und Schalke 04 ihre 34. Bundesliga-Partie in München wirklich nach dem Vorbild von Peter Leko und Wladimir Kramnik bei der Schach-WM beendet: Einvernehmliche Einigung auf ein Remis nach ein paar wenigen, wirren Zügen - wegen konditioneller und zerebraler Unpässlichkeit. Als Gräfe dann aber doch zur zweiten Halbzeit bat, waren nur zwei Akteure nicht mehr dabei: Sebastian Deisler und ein Baum.

Verluste, die zu verschmerzen gewesen wären. Der erste, Deisler, war das Bauernopfer, mit dem Trainer Felix Magath einen Strategiewechsel im Spiel der Bayern herbeizuführen versuchte. Der zweite, der Weihnachtsbaum, hatte sich ohnehin in der Jahreszeit geirrt. In der Pause wurde er mit seinen roten und goldenen Kugeln von seinem Platz vor der Ehrentribüne über die Laufbahn durchs Marathontor hinaus getragen, mit ihm die roten Geschenkpakete mit den blauen Schleifen.

Erinnerungen an die vergangene Saison

Wohl nur die betreuende Werbeagentur der Aktion wird gewusst haben, woher der Baum kam, wohin er ging. Nadelnd fügte er sich ein in eine Serie der Dissonanzen, an deren Ende Oliver Kahn vor die Presse trat, um aufzuklären, was entstehen kann, wenn man zur falschen Zeit das Falsche tut: "Wir müssen höllisch aufpassen, dass uns nicht das Gleiche passiert wie letztes Jahr. Da haben wir immer gedacht, die werden einbrechen - und Bremen ist nicht eingebrochen."

Nur vier Punkte Rückstand waren es im Dezember 2003, Bayern lag damals hinter Bremen auf Platz zwei, jetzt liegen die Münchner nach nur acht Runden schon sechs Punkte hinter dem VfB Stuttgart. Kahn warnt bereits vor dem Winter und den guten Wünschen fürs neue Jahr: "Dann kommen sie wieder, die Sprüche: Wir packen's in der Rückrunde. Das ist sehr gefährlich. Es wird Zeit für uns."

Nur wo, in welchem Wettbewerb? "Ich kann nicht auf die Champions League schielen, wenn ich den Alltag bewältigen muss", mahnt Kahn: "Die Bundesliga ist für uns Verpflichtung." Die Punkte, die beim 0:1 gegen Schalke so schmucklos verloren wurden, sollen in Rostock zurück erobert werden, denn: "Wir müssen in dieser Saison Meister werden, das müssen wir schnellstens verstehen. Wir haben nichts mehr zu verschenken." Warum sie sich dennoch so selbstlos gaben, wird bei den Bayern nun tiefenpsychologisch erforscht.

Trainer Magath vermutet "Juventus Turin im Hinterkopf", den Herausforderer am Dienstag. Zweite Ursache: grassierendes Fernweh. Zwei Wochen lang standen die Nationalspieler nicht Magath und den Bayern, sondern nur ihren Auswahlteams zur Verfügung. Während dieser Zeit habe sich die Energie aus den Siegen gegen Ajax Amsterdam (4:0) und Bremen (2:1) verflüchtigt, sei die "gute Stimmung und die Leistung irgendwo um den Erdball geflogen, aber nicht in München geblieben".

Um Heiterkeit zurück zu holen, bat Magath am Sonntagvormittag zu einer Gruppentherapie mit Standpauke, Videostudium und Aussprache: "Es wird sich der ein oder andere kritisiert fühlen. Wir können aber nach dieser Leistung nicht zur Tagesordnung übergehen." Galt es doch, eine Präsentation zu untersuchen, in der nur besonders Wohlmeinende eine einzelne Torchance für die Bayern entdecken konnten, in der Magath allein bei Oliver Kahn und Lúcio "so etwas wie Siegeswillen sah", und die Michael Ballack als "Scheiß-Spiel" analysierte. Eine solche Injurie aus Ballacks stubenreinem Munde - die Lage scheint wirklich übel und ernst zu sein. Verschärft wird sie durch eine Vielzahl individueller Schicksale.

Da wäre Sebastian Deisler, den Magath offenbar als größte pädagogische Herausforderung ansieht. Die Laufwege der sensiblen Begabung sind ihm ein Rätsel: "Er will zu viel, er drängt immer zum Ball. Er hat nicht die Geduld, um mal zu warten, bis der Ball zu ihm kommt." Sein Spiel wirkt deshalb zähflüssig und banal. Roy Makaay hingegen litt augenscheinlich unter Einsamkeit als einzige gesunde Angriffskraft.

Mit den Offensiven, die aus vielerlei Gründen fehlten (Zé Roberto, Pizarro, Santa Cruz, Hashemian, Guerrero, Trochowski, Scholl, Zickler) ließe sich eine komplette Liga bestücken - gegen Juventus kehren zunächst wohl nur Zé Roberto und Hashemian ins Aufgebot zurück. Unglücklich auch Bastian Schweinsteiger, der Fehlpass-König der ersten Hälfte, eine Rolle, in der ihn Hasan Salihamidzic in der zweiten beerbte.

Deshalb lautet die aktuelle Vorhersage: Eher kommt Weihnachten wohl doch schon im November über München, als dass sich der Meistertitel im nächsten Mai einstellt.

© Süddeutsche Zeitung vom 18.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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