Baden-Württemberg-Derby:Spektakel mit Genickbrecher

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Ausgleich in der 94. Minute: Der Stuttgarter Marc Oliver Kempf (links) entreißt Hoffenheim mit dem Treffer zum 3:3 den Heimsieg. (Foto: Jan Huebner/imago)

Nach einer aufwühlenden Corona-Phase mit Positiv-Fällen und Team-Quarantäne überzeugt Hoffenheim gegen Stuttgart - verspielt aber kurz vor Schluss noch den Sieg.

Von Christoph Ruf, Sinsheim

Es ist eine bemerkenswerte Randnotiz dieser Pandemie-Saison, dass die Arzt-Praxis des "Querdenker"-Aktivisten Bodo Schiffmann gerade mal 2,2 Kilometer neben der Sinsheimer Fußballarena liegt. Als die dort beheimatete TSG Hoffenheim am Samstag ihr Heimspiel gegen den VfB Stuttgart bestritt, hatte der Corona-Skeptiker zusammen mit seinem Sekundanten Wolfgang Greulich gerade das nahe Pforzheim verlassen, wo die beiden erneut wilde Drohungen gegen die Bundesregierung und den Virologen Christian Drosten zum Besten gaben. Schließlich hätten diese beiden das Land aus reiner Boshaftigkeit in eine Covid-Paranoia gestürzt.

Ohne sieben Corona-infizierte Spieler lief dann um 15.30 Uhr die TSG auf, nachdem sich der Stadionsprecher Minuten zuvor erfreut darüber gezeigt hatte, dass man trotz der Ausfälle von Kevin Vogt, Sebastian Rudy, Ishak Belfodil, Robert Skov, Munas Dabbur, Jacob Bruun Larsen und Sargis Adamyan (alle positiv auf Covid-19 getestet) immerhin sogar "die Ersatzbank vollbekommen" habe.

Ein Understatement, das um 15 Uhr 29 sehr nachvollziehbar war - und zwei Stunden später fast kokett wirkte. Denn nach dem Spiel konnte man sich kaum vorstellen, dass eine Hoffenheimer Elf, die auf alle Stammkräfte hätte zurückgreifen können, sich mit dem erstaunlichen Aufsteiger VfB eine noch unterhaltsamere Partie hätte liefern können. "Die Art und Weise, wie wir in der zweiten Hälfte aufgetreten sind, macht mich stolz", sagte TSG-Trainer Sebastian Hoeneß, "das ist überhaupt nicht selbstverständlich." Eigentlich wollten die Hoffenheimer das Spiel auf Sonntag verschieben, doch die DFL lehnte das Gesuch in der vergangenen Woche ab.

Im ersten Durchgang wirkte es dann zunächst so, als sei dem Stuttgarter Tempofußball an diesem Nachmittag überhaupt nicht beizukommen. Nach 45 Minuten hätte es höher als nur 2:1 für den VfB stehen können, doch TSG-Torwart Oliver Baumann war da, als ihn sein Team brauchte: Silas Wamangituka hatte das 3:1 auf dem Fuß (39.). Die beiden Tore, die Baumann nicht verhindern konnte, waren zuvor mit einem Selbstbewusstsein herausgespielt worden, das gewöhnliche Aufsteiger in der Regel nicht auf den Platz bringen.

Nachdem Christoph Baumgartner die TSG-Führung erzielt hatte (16.), glich Stuttgarts Nicolas Gonzalez mit einem satten Linksschuss aus (18.). Dessen Abschluss war dabei nicht so spektakulär wie die Art und Weise, wie er zuvor drei Gegenspieler hatte stehen lassen. Auch das zweite Gäste-Tor diente als Anschauungsmaterial für die Art und Weise, wie Stuttgarts Coach Pellegrino Matarazzo sein Team offensiv agieren sehen will: Der druckvolle öffnende Pass von Tanguy Coulibaly, die Flanke von Daniel Didavi, der Lattenkopfball von Gonzalez, der Pfosten- und der Nachschuss von Wamangituka zum 2:1 - all das lief innerhalb von fünf, sechs Sekunden ab. Und damit viel zu schnell, als dass es effektiv zu verhindern gewesen wäre.

Beim 2:2 gegen Eintracht Frankfurt, am letzten Spieltag vor der Länderspielunterbrechung, hatte der VfB im ersten Durchgang ähnlich berauscht gespielt - und seine Führung noch aus der Hand gegeben. Diesmal führte die verletzungsbedingte Auswechslung von Gonzalez (32.) zu einem Bruch im Stuttgarter Spiel. Der Argentinier hatte sich bei der Entstehung des 2:1 das linke Knie verdreht, eine längere Verletzungspause ihres wohl besten Individualisten würde die Schwaben schwer treffen. Nach den Untersuchungen am Sonntag war von einem "kleinen Teilriss des Innenbands" die Rede. Der VfB hofft, dass der Angreifer nur "zwei bis drei Wochen" fehlt.

In Hoffenheim war nach seiner Auswechslung kaum mehr etwas, wie es vorher war: Hoffenheims Ryan Sessegnon, ein 20-jähriger Engländer, der als Teenager die feinen Schulen von Fulham und Tottenham durchlaufen hat, war so frei, das 2:2 zu schießen (48.), dem Andrej Kramaric das 3:2 per Foulelfmeter folgen ließ (71.). Wer den ersten Durchgang vergessen hatte, konnte vermuten, dass die nun erstaunlich willensstarken Hoffenheimer als Sieger den Platz verlassen. Wer das Große und Ganze der 90 Minuten in Blick hatte, musste aber das von Marc Oliver Kempf in der Nachspielzeit erzielte 3:3 (90.+3.) als gerechtes Ergebnis des Spektakels sehen.

Für die Hoffenheimer war es das bittere Finale einer aufwühlenden Woche: "Dieses kuriose Tor kurz vor Schluss ist ein brutaler Genickbrecher für uns", seufzte Trainer Hoeneß, dessen Team nun seit sechs Ligaspielen sieglos ist.

© SZ vom 23.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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