Analyse:Zwei neue Deutschlands

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Was hat sie denn jetzt drauf, die renovierte Elf von Jogi Löw? Das 1:1 gegen Serbien gibt Anlass zu einigen Bedenken - macht aber auch Hoffnung für die schwere EM-Qualifikationspartie in Amsterdam.

Von Javier Cáceres, Wolfsburg

Für die Länge eines Augenblicks verlor Leon Goretzka die Bezugspunkte. Der Mittelfeldspieler des FC Bayern war aus der Kabine gekommen, um Auskunft über das 1:1-Unentschieden gegen die Serben und auch seinen Treffer aus der zweiten Halbzeit zu geben; da passte das, was er hörte, mit dem Ort, an dem er war, nicht mehr zusammen. Es tue ihm leid, sagte Goretzka, aber er habe sich gar nicht auf die Frage konzentrieren können: "Sorry, noch mal bitte. Ich bin, ehrlich gesagt, etwas abgelenkt von Ihrer Stimme, weil ich die immer im Fernsehen höre", sagte Goretzka. Die Frage hatte Béla Réthy formuliert, der mit seiner markanten Stimme für das ZDF seit Ewigkeiten die Livespiele kommentiert, in Wolfsburg aber als Reporter eingesprungen war. Réthy lachte, die Umstehenden lachten, und Réthy wiederholte die Frage aus Gründen der Zeitökonomie in nur noch stichwortartiger Form: "Ausblick Holland!"

Ausblick Holland, das bedeutete, dass am Sonntag in Amsterdam das Qualifikationsspiel gegen die Niederländer ansteht. "Ausblick Holland" war aber auch eine Einladung zur Beantwortung der Frage, wie es um das DFB-Team bestellt ist - nach dem Remis gegen ein serbisches Team, das zwar ersatzgeschwächt angetreten war, aber einen "Wegweiser für die Zukunft" geliefert hatte, wie ihr Trainer Mladen Krstajic, einst Double-Sieger mit Werder Bremen, hernach stolz behauptete. "Oliver Bierhoff hat gesagt, wir sind nicht der Favorit. Trotzdem ist das ein Prestigeduell. Da wollen wir natürlich zeigen, was wir draufhaben", sagte also Goretzka.

Ja, was hat sie drauf, diese Mannschaft? Die vom Bundestrainer Joachim Löw ausgerufene "neue Zeitrechnung" begann eigentlich erst in der zweiten Hälfte. Zuvor hatte das Team auf dem Rasen mit ähnlichen Orientierungsproblemen zu kämpfen wie Goretzka später in der Mixed Zone. Und das vor einem fußballkulturfernen Publikum, das die deutschen Starlets auf dem Rasen trotz des Flehens der DFB-Verantwortlichen um Geduld und Nachsicht mit Pfiffen in die Halbzeit verabschiedete.

Der Vorwurf: Die Mannschaft hatte in der Defensive - nicht nur beim 0:1 durch den europaweit umschwärmten Noch-Frankfurter Luka Jovic (12.) - und in der Offensive gleichermaßen fahrig gewirkt.

Die Reaktion von den Rängen befremdete die Akteure, auch wenn sie das in diplomatische Worte kleideten. "Ich verstehe, dass die Leute langsam ungeduldig werden und Siege sehen wollen, aber es ist ein Umbruch. Das eine oder andere Spiel kann man uns noch geben", sagte Joshua Kimmich, der mit 24 Jahren und 39 Länderspielen der Feldspieler mit den meisten Einsätzen war. Und ja, es ist ein Umbruch: Jeder einzelne Bestandteil der Abwehrreihe war weniger erfahren als Kimmich; die Innenverteidiger Jonathan Tah (Leverkusen) und Niklas Süle (FC Bayern) sowie die Außenverteidiger Lukas Klostermann und Marcel Halstenberg (beide Leipzig) kommen zusammen auf nunmehr 25 Einsätze. Die Offensivabteilung war kaum erfahrener.

Dass da nur begrenzt "Automatismen" zu sehen waren, wie Löw später einräumte, lag also in der gewollt experimentellen Natur der Sache. Er habe sehen wollen, "wie so eine junge, unerfahrene Mannschaft sich auf dem Platz verhält", erklärte Löw.

Auf das, was nach der Pause geschah, war Löw aber nachgerade stolz. Der einzige Weltmeister von 2014, der in der Startelf Platz gefunden hatte - Torwart Manuel Neuer -, wich zur Pause seinem Herausforderer Marc-André ter Stegen; es kam Marco Reus, ab der 56. Minute auch der spätere Torschütze Goretzka. Im Verbund wälzten sie das Spiel der deutschen Elf dergestalt um, dass etwa Leroy Sané phasenweise so aufregend spielte wie bei Manchester City; zuvor hatte man das Gefühl, sein englischer Arbeitgeber habe einen unfertigen Klon geschickt. Sané stand für das Tempo und die wagemutige Selbstgewissheit, die im deutschen Spiel nun Einzug hielt, Serbien kam zu keiner weiteren echten Chance.

"Die Mentalität der Mannschaft, die so noch nicht zusammengespielt hat, war sehr gut. "Das war ein deutliches Signal", sagte Löw und erklärte, mit der zweiten Halbzeit "absolut zufrieden" gewesen zu sein - wobei er sein Lieblingswort "aaa-b-sooo-lut" in seine Silben zerlegte. Sein Team habe "viel präsenter" gewirkt, lobte der Trainer dann noch: "Das hat unsere Gefährlichkeit immens erhöht."

Ein paar Festlegungen für Sonntag hat Löw bereits getroffen. Gegen die Niederlande wird Neuer im Tor stehen (Löw: "Davon kann man ausgehen"), die gegen Serbien geschonten Toni Kroos, Matthias Ginter und Antonio Rüdiger dürften ins Team rücken, Marco Reus von Beginn an spielen. Reus übrigens legte eine Selbstkritik an den Tag, die an Selbstkasteiung grenzte. "Das war zu wenig, wir sind immer noch Deutschland!", sagte er. Dabei dürfte er die vielen vergebenen Chancen im Kopf gehabt haben, die auch Löw beklagte. Dabei fiel vor allem Timo Werner auf, der es bei seinen Abschlüssen an Ruhe und Präzision vermissen ließ. Sein Leipziger Teamkollege Lukas Klostermann, 22, wird dagegen trotz seines gelungenen Debüts nicht in Amsterdam spielen können; der Außenverteidiger ist wegen eines Muskelfaserrisses in den Adduktoren bereits abgereist.

Löw hofft, in den verbleibenden Tagen genug Zeit für die Vorbereitung zu haben. Für taktische Arbeit auf dem Platz stehen ihm nur zwei Trainingseinheiten zur Verfügung, "das ist nicht viel, aber in Gesprächen und Sitzungen können wir uns schon einiges aneignen", erklärte er.

Er kann zumindest darauf bauen, dass sein Team ein klares Bild der Niederlande und damit keinen größeren Orientierungsbedarf hat: "Der Gegner ist uns mehr vor Augen als Serbien", erklärte Löw.

© SZ vom 22.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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