Ablenkung Nationalelf:Mitten im Gedränge

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Mario Götze genießt seinen großen Auftritt in der Münchner Arena - und wird gleich wieder mit dem Alltag des Fußballgeschäfts konfrontiert.

Von Philipp Selldorf, München

Der letzte deutsche Nationalspieler, der am Dienstagabend in Zivil die Kabine verließ, war Mario Götze. Als er sich im Schlenderschritt dem Ausgang näherte, brach unter den Berichterstattern, die auf ihn und nur auf ihn gewartet hatten, augenblicklich ein gewaltiges, aufgeregtes Gedränge aus - Mario Götze stand am Dienstagabend in der Münchner Arena mindestens so sehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses wie am Abend des 13. Juli 2014 im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro. An jenem Abend vor eindreiviertel Jahren war er als Siegtorschütze des neuen Weltmeisters in den einzig möglichen seelischen Zustand entrückt - den Zustand der Seligkeit, diesmal machte er den Eindruck, als würde ihn der Rummel, der sich vor seiner Nase zutrug, einerseits amüsieren und andererseits mit Genuss und Genugtuung erfüllen.

"Ich wusste nicht, dass er immer dabei ist, wenn ich trainiere."

Es ist schon lange her, dass Mario Götze, 23, Gelegenheit hatte, von einem sehenswerten Auftritt auf dem Fußballplatz zu berichten. Und noch deutlich länger ist es her, dass ihm dabei so viele Menschen mit einer Aufmerksamkeit zuhörten, als würden sie den Worten eines großen Propheten lauschen. Aus gegebenem Anlass sprach er daher zuerst von der "schwerwiegenden Zeit", die er während der Genesung von seiner Muskelverletzung verbracht hatte, und ausdrücklich dankte er dabei den Leuten, die ihn im Laufe seiner langen Rekonvaleszenz ertragen hatten.

"Ich freue mich einfach, dass ich wieder fit und gesund bin", sagte Götze, und das war zwar eine ziemlich profane Mitteilung, sie schien ihm in diesem Moment aber wirklich die wichtigste Botschaft zu sein. Was auch sonst nach einer Saison, die Mitte Oktober 2015 wegen eines Faserrisses an den Adduktoren ihr vorläufiges Ende fand? Zwar hat sich Götze Mitte Februar zum Dienst zurückgemeldet, aber mehr als 54 Spielminuten gegen Werder Bremen hat ihm Pep Guardiola beim FC Bayern seitdem nicht zugestanden. Seitdem wird mehr über Mario Götzes Marktwert und seine Zukunft diskutiert als über sein anerkannt famoses Spielvermögen.

Mario Götze ist lange genug Fußballprofi, um zu wissen, dass ihn in dieser Stunde der unschuldigen Daseinsfreude der Alltag des Fußballgeschäfts zügig einholen würde, und so kam es dann auch, als er sich in der Interviewzone den Mikrofonen zuwandte. Die Fragen der Reporter richteten sich weniger auf sein erstaunliches Kopfballtor zum 2:0, das er mit jenem Kampfgeist erzielt hatte, der ihm so oft abgesprochen wird. Stattdessen wurde er mit zweideutigen Erkundigungen konfrontiert: wie wichtig das Vertrauen des Trainers für einen Spieler sei und was er eigentlich von den Empfehlungen des ARD-Fernsehexperten Mehmet Scholl halte, der ihn aufgefordert hatte, das Trainingspensum und seinen Einsatzeifer zu erhöhen.

Götze leistete zu diesen Themen solide rhetorische Abwehrarbeit. Scholls Ratschlag bedachte er mit mildem Spott ("ich wusste nicht, dass er immer dabei ist, wenn ich trainiere"), Fragen zu seinen Problemen beim FC Bayern entgegnete er mit einem einstudierten Spielzug: "Ich bin bei der Nationalmannschaft, ich bin im Hier und Jetzt - und heute habe ich ein gutes Spiel gemacht und ein Tor geschossen", sagte er - zweifellos wohlwissend, dass dieser friedliche Zustand sofort enden wird, sobald er das Haus verlässt.

Mario Götze ist nicht der erste Spieler, der diesen vermeintlichen Widerspruch aufwirft: In der Bestenauswahl seines Heimatlandes findet er Erfüllung und Befriedigung, weil er das Gefühl bekommt, gebraucht zu werden; zu Hause bei seinem Arbeitgeber aber, wo er mit aberwitzigen Summen bezahlt wird, findet sich einfach kein Platz für seine zweifellos vielfältigen Begabungen. Es war ein wenig verblüffend und dennoch plausibel, dass Bundestrainer Joachim Löw unlängst aus seinem Zwiegespräch mit Götze berichtete; es ging dabei offenbar vor allem um den nächsten Arbeitsplatzwechsel. Götze muss Fußball spielen, um in Schwung zu kommen. Dass er dazu den nötigen starken Willen besitzt, das hat er am Dienstagabend bewiesen. Den Eindruck eines trainingsfaulen Spielers hat er dabei nicht hinterlassen.

Mario Götze ist die personifizierte Antithese zu Mario Gomez

Andererseits hat es Joachim Löw im Vergleich zum Vereinstrainer Guardiola relativ leicht, Mario Götze das nötige Vertrauen zu schenken. Bei den Bayern findet sich im Team kaum eine Lücke, um den schwer zu definierenden Götze unterzubringen. In der Nationalelf dagegen hat sich der frühere und womöglich künftige Dortmunder mit der Position als verkappte Sturmspitze seine persönliche Domäne eingerichtet. Götze ist die Alternative und die Antithese zum diplomierten Mittelstürmer Mario Gomez, der die zweite Sturmspitze in Joachim Löws Kader bildet. Dass sich diese beiden ungleichen Angriffsmodelle als Sturmbesetzung für die anstehende Europameisterschaft gewinnbringend ergänzen könnten, das gehört zur primären Erkenntnis dieser kleinen Testspielrunde.

Für Max Kruse ist das keine gute Nachricht. Der Wolfsburger hat seine Rolle für die EM womöglich bereits erfüllt. Mit seinem skandalisierten Verhalten samt Rauswurf hat er dem Bundestrainer Gelegenheit gegeben, ein Exempel zu statuieren und im passenden Moment Härte und Konsequenz zu demonstrieren. Nun kann Löw wieder Vertrauen und Fürsorge verteilen. Götze wird's danken.

© SZ vom 31.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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