9. Etappe der Tour de France:Der Tag des Ausreißers

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Der Berliner Jens Voigt schlüpft bei der Tour ins Gelbe Trikot und kann den heutigen Ruhetag so richtig genießen. Jan Ullrich muss nach seinem zweiten Unfall zur Röntgenuntersuchung.

Von Andreas Burkert

Bei der Tourausgabe 2001 trug Jens Voigt das Gelbe Trikot schon einmal, doch leider sah man es nicht an ihm. Nach der Siegerehrung von Colmar, wo er sich als Etappenzweiter an die Spitze des Klassements gesetzt hatte, regnete es am nächsten Tag aus Kübeln, schlimmer noch als bisweilen bei ihm daheim in Mecklenburg. Voigt musste das Maillot Jaune unter einer Regenjacke verstecken, und abends hatte er es wieder verloren. Diesmal darf er es wenigstens bis Dienstag behalten, denn heute ist Ruhetag in Frankreich.

Der Etappensieger kommt aus Dänemark: Michael Rasmussen. (Foto: Foto: AP)

Er kann somit sein jüngstes Meisterstück etwas länger genießen, es brachte ihm als Nachfolger des vorläufig entthronten Titelverteidigers Lance Armstrong erneut die Tourspitze ein. In Mulhouse belegte Voigt gestern Rang drei hinter Solosieger Mickael Rasmussen aus Dänemark. "Am Montag werde ich es ja auf jeden Fall verteidigen", sagte Voigt, 33, vergnügt, "ich werde mich den ganzen Tag draufsetzen."

Voigt hatte bereits am ersten Berg attackiert und rettete in Zusammenarbeit mit Christophe Moreau, dem neuen Gesamtzweiten, drei Minuten auf die Verfolger um Armstrong ins Ziel. Der Texaner liegt nun mit 2:18 Minuten Differenz auf Platz drei. Zu den ersten Gratulanten zählte Jan Ullrich (8.), der gleich hinter Armstrong über die Linie rollte und dem Rivalen "einen schönen Ruhetag" wünschte.

Ullrich als Stuntman

"Jens ist einer der sympathischsten Fahrer, er hat es verdient", sagte er. Womit es dagegen Ullrich verdient hat, dass er in Frankreich allmählich ins Stuntman-Fach wechselt, bleibt einstweilen ungeklärt. Gestern erfasste ihn auf der ersten Abfahrt bei Tempo 60 "in einer Kurve eine starke Windböe, ich bin durch den Graben und hab' mich drei, viermal überschlagen".

Ullrich trug blutige Wunden oberhalb des linken Knies und an der rechten Wade davon, außerdem "ein paar Prellungen". Ob eine Rippe angeknackst ist - womit die Tour für ihn wohl beendet wäre -, soll heute eine Röntgenuntersuchung klären. Zeuge des zweiten kapitalen Aufpralls binnen zehn Tagen war Ullrichs Helm, der zersprang und ein Cut an der Schläfe hinterließ.

Bereits am Abend zuvor war Ullrich leicht derangiert zum Gespräch vor dem Kaminfeuer des Teamquartiers in Ventron erschienen. Wenn nicht jemand nach ihm gesehen hätte, wäre er wohl bis zum Morgen im Zimmer seiner Physiotherapeutin Birgit Krohme liegen geblieben, auf deren Massagebank er sich friedlich verabschiedet hatte in eine ferne Welt.

Klöden fehlt ein knapper Zentimeter zum Sieg

Ullrich ist sehr entspannt gewesen nach einem aufregenden Arbeitstag, und er war auch wieder voller Hoffnung. Dabei hatten seinem Freund Andreas Klöden am Samstag lächerliche 9,6 Millimeter zum Etappenerfolg in Gérardmer auf den Holländer Pieter Weening gefehlt. Aber wegen Tagessiegen sind sie ja nicht hier. Sie möchten Armstrong besiegen.

Wie das funktionieren könnte, hatte Ullrichs Team angedeutet mit einer strategisch hochwertigen Darbietung. "Alarm bei Armstrong" titelte L'Équipe beeindruckt, und Tour-Chef Jean-Marie Leblanc übermittelte telefonisch Glückwünsche.

Nicht nur er hofft ja auf ein wenig Spannung bei seinem Spektakel, das nach dem Zeitfahren vor einer guten Woche den üblichen Verlauf zu nehmen drohte. Doch am Samstag trieb die Magenta-Flotte den Seriensieger erstmals etwas in die Enge, wie der hinterher einräumte. "Ich habe mich noch nie in einem Berg so isoliert wieder gefunden, obwohl noch 30 Fahrer dabei waren", sagte Armstrong erstaunt und sprach von einem "schlechten Tag ohne Auswirkungen auf das Klassement".

Starkes T-Mobile-Team

Denn Zeit hatte nur Klöden auf den Favoriten gutgemacht (39 Sekunden, jetzt Elfter), weil Ullrich und sein noch besser platzierter Teamkollege Alexander Winokurow (5.) dem Kumpan natürlich nicht nachsetzen konnten nach dessen Angriff vor dem Gipfel. In Gérardmer sprinteten sie zudem erfolglos um die acht Sekunden Bonifikation für Rang drei, doch wie Klödens hauchdünne Niederlage war auch dieses Detail zu verschmerzen. Denn Winokurow hatte mit seinen Antritten am Col de la Schlucht dafür gesorgt, dass Armstrongs Leute der Reihe nach aus der Topgruppe rutschten.

Als letzter kämpfte Giro-Sieger Paolo Savoldelli um Anschluss, "aber als Winokurow das dritte Mal ging, konnte ich nicht mehr". Auf die Initiative des Kasachen musste Armstrong natürlich regieren, später bemühte er sich beinahe rührend um eine Nähe zu Ullrich, der Armstrong "beschattete", wie der Kapitän berichtete.

"Für uns sind Winokurow und Ullrich die gefährlichsten Gegner", erklärte Armstrong, "und ich kann ja nicht jedem nachfahren." Der Verlust seiner Leibgarde irritierte ihn wohl mehr als die Angriffslust der deutschen Equipe. "Ich bin zwar nicht laut geworden", sagte er, "aber wir mussten darüber reden."

Das Ergebnis der Aussprache war gestern zu besichtigen, als Discovery stets vorneweg fuhr, wie in den Jahren zuvor. Doch Voigts Elan hatten sie nichts entgegen zu setzen. T-Mobile hatte dagegen angekündigt, die neunte Etappe tauge nicht zur erneuten Offensive angesichts der langen Abfahrt ins Ziel.

Ullrich sieht Krise in Armstrongs Team

Trotzdem verbuchte man die ersten Bergfahrten als Erfolg, Sportchef Mario Kummer sprach von einem wertvollen Gruppenerlebnis für die Moral: "Das wird sich psychologisch auswirken, denn davon haben wir doch in den letzten Jahren immer geträumt - dass wir unsere Spitze komplett zur Tour bringen." Den Rückkehrer Klöden, das Sorgenkind dieses Frühjahrs, inklusive. Ullrich wagte deshalb sogar eine verbale Spitze, er sagte: "Jeder hat gesehen, dass Armstrongs Mannschaft kriselt."

Von einer Krise sind CSC und Voigt so weit entfernt wie das Peloton von Paris. Die deutsche Arbeitsbiene nahm gestern mit ihrem unnachahmlichen Kämpferstil die sechs Bergwertungen und raste in der Ebene dem großen Ziel entgegen. Gut vier Minuten betrug auf dem letzten Gipfel der Vorsprung auf Armstrongs schuftende Gruppe.

Auch ein Defekt bremste Voigt nur unwesentlich, zumal Moreau kurz auf ihn wartete. Beim ersten Showdown am Dienstag in den Alpen werde jedoch nicht für Voigt gearbeitet, betonte Teamchef Bjarne Riis: "Unser Ziel ist das Podium für Ivan Basso." Vorsichtshalber sollte Jens Voigt das Gelbe Trikot also heute bei der Trainingsfahrt allen einmal zeigen.

© SZ vom 11.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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