Die deutsche Mannschaft:Hoffen auf den idealen Tag

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Wenige klare Gold-Favoriten, aber viele Chancen für Überraschungen: Das deutsche Team geht in Rio entspannt an den Start.

Von Volker Kreisl

Sam gefällt es offenbar in Rio. Michael Jung sagt, beim ersten Training "war er gut drauf". Das ist wichtig fürs gesamte deutsche Olympiateam. Denn sucht man nach einem Sportler, der aufgrund seiner Klasse das 423-köpfige deutsche Team in Rio anführen könnte, auf den man sich verlassen kann, dann ist das der Vielseitigkeitsreiter Michael Jung. Er ist der einzige wirkliche Goldkandidat; der, von dem alle Konkurrenten sagen: "Der Sieg führt nur über ihn." Und Jung wäre nichts ohne Sam, sein Pferd, dessen vier Beine ihn schon 2012 zum Olympiasieg führten und die nun außer Jung noch einige allgemeine Erwartungen tragen.

Die anderen Leistungsträger der Deutschen darf man deshalb nicht gleich vergessen, sie sind aber unberechenbar. Eine seriöse Medailleneinschätzung ist unmöglich. Außer bei den Vielseitigkeits-, Spring- und Dressurreitern gibt es viele weitere Medaillenkandidaten, aber wenige sichere Erwartungen, weshalb die offiziellen Medaillen-Erwarter, DOSB-Präsident Alfons Hörmann und Chef de Mission Michael Vesper, nicht gerade aggressive Forderungen stellen. 44 Stück sollen es werden, "wenn wir das Ergebnis von London schaffen, wäre das eine grandiose Leistung", sagt Vesper.

Im Grunde besteht die Rio-Mannschaft aus drei Teilen. Der kleinste ist der jener Sportler, die auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten stehen und dies seit Monaten unter Beweis stellen. Neben Jung sind dies Athleten wie Marco Koch (Weltmeister im Brustschwimmen), Fünfkämpferin Lena Schöneborn (unter anderem Weltmeisterin 2015) oder Sebastian Brendel (Kanu-Gold in London).

Aussichtsreich ist auch die zweite Gruppe, wenngleich die Betroffenen hinter jede optimistische Äußerung einen Halbsatz mit Wenn oder Aber anhängen. Es sind jene Top-Athleten, die entweder ihren Zenit überschritten haben oder nach Verletzungen gerade zurückgekommen sind - einige im letzten Moment. Die Vorsicht von Diskus-Olympiasieger Robert Harting, Kugelstoß-Weltmeister David Storl, die Zurückhaltung der Olympiasilber-Gewinner am Reck und Barren, Fabian Hambüchen und Marcel Nguyen, oder auch von Schwimmer Paul Biedermann ist gerechtfertigt. Sie wollen einfach nur ohne laute Worte das Beste geben und hoffen auf einen idealen Tag.

M.-L. Jungfleisch: die Medaillenhoffnung im Hochsprung

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(Foto: dpa)

Den perfekten Sprung? Erkennt man daran, dass man ihn fast nicht merkt, sagt Marie-Laurence Jungfleisch, 25, aus Stuttgart. Wenn der Hochspringer den Absprung perfekt trifft, "abhebt, ohne wirklich Kraft aufwenden zu müssen", sagt sie. Vor einem Jahr hat sie so einen Sprung erwischt, als sie mit 1,99 Metern WM-Fünfte wurde. Und neulich, als sie erstmals 2,00 Meter schaffte, als sechste Deutsche überhaupt. Jungfleisch, geboren in Paris, Erzieherin im Nebenjob, hat eine zähe Saison hinter sich, aber für Rio hat sie sich nun doch eine Medaille vorgenommen, am besten mit einem perfekten Sprung. Sie weiß mittlerweile ja, wie man ihn bei Großanlässen herbeiführt. (Foto: M. Kappeler/dpa)

Dustin Brown: der Tennis-Exot

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(Foto: Peter Schneider/dpa)

Deutsche Tennisspieler und Olympia - das waren oft ganz wunderbare Geschichten. 1988 gewann Steffi Graf nicht nur den Grand Slam, dank des Olympia-Sieges in Seoul glückte ihr gar der Golden Slam. 1992 siegte bei den Männern ein unglaubliches deutsches Doppel: Boris Becker gewann zusammen mit seinem Intimfeind Michael Stich. Aus, vorbei. Seit einiger Zeit haben die deutschen Schlägerschwinger nicht mehr so recht Lust auf die Spiele. 2012 sagte Philipp Kohlschreiber für London lustlos ab, dieses Mal taten es ihm seine Kollegen Philipp Petzschner und Alexander Zverev gleich. Damit ist die Bühne bereitet für Dustin Brown aus Winsen an der Aller, der noch bis 2010 lieber für Jamaika spielte. (Foto: Peter Schneider/dpa)

Carolin Golubytskyi: die einzige deutsche Fechterin

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(Foto: dpa)

Talent ist ein seltsames Phänomen, manche führt es im Jugendalter auf die großen Podien, bei anderen schlummert es ein Jahrzehnt lang im Verborgenen. Carolin Golubytskyi, 30, hatte schon mit 14 Bronze bei der Kadetten-WM gewonnen, doch der große Durchbruch folgte trotz ihrer technischen Fähigkeiten lange nicht. Golubytskyi braucht ein harmonisches Team und einen nachhaltig arbeitenden Trainer, einen echten Teamchef, wie den Italiener Andrea Magro. Seit er da ist, gewinnt sie an Sicherheit, 2013 wurde sie WM-Zweite, 2016 EM-Dritte, und bei den Olympischen Spielen in Rio ist sie nun die einzige deutsche Fechterin. Sie traut ihren Fähigkeiten, und vielleicht traut sich ihr Talent auch in Rio ans Tageslicht. (Foto: Endig/dpa)

Fabian Hambüchen: der angeschlagene Turn-Routinier

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(Foto: dpa)

Das wäre eine schöne Geschichte und eine passende Formel. Und weil sie so griffig war wie eine Reckstange voller Magnesia, wurde die Formel Fabian Hambüchen vor vier Jahren in London gleich nach dem Wettkampf noch in der Mixed-Zone zugerufen: "Bronze am Reck in Peking, nun Silber in London - also Gold in Rio, oder?" Hambüchen lachte und hielt sich daran lange fest. Der Reck-Weltmeister des Jahres 2007 überwand für Rio im höheren Turner-Alter noch einige Rückschläge. Doch dann riss ihm eine Sehne in der Schulter an, was ihn an den Rand der Resignation brachte. Hambüchen kam zurück, nun fehlt ihm zwar die Höchstschwierigkeit, dafür hat er noch ein paar andere Trümpfe. Viel Erfahrung, die Fähigkeit präzise zu turnen, was auch Punkte bringt, und: Gelassenheit. Es reicht ja auch Bronze-Silber-Bronze. Oder auch nur ein letzter starker Olympia- Auftritt. (Foto: Kappeler/dpa)

Martin Sauer: der Steuermann des Deutschland-Achters

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Wenn der Jura-Student Martin Sauer mit seiner Mannschaft ins Ziel kommt, ist er als Einziger noch bei Atem und bei Sinnen. Alle anderen japsen nach Luft und sehen nicht mehr scharf vor lauter Anstrengung. Der Berliner ist mit 33 Jahren der Älteste und mit 1,69 Metern der Kleinste im Deutschland-Achter, er sitzt ganz hinten und schaut als einziger in Fahrtrichtung. Statt eines Ruders hat er ein Mikrofon. Seine Worte schallen aus kleinen Lautsprechern in den Seiten des Bootes. Er ist als Steuermann Herzschlag und Stimme des Bootes, die Ruderer sind die Muskeln. Sauer kontrolliert einen pulsierenden Organismus. Am 13. August will er zum zweiten Mal nach 2012 als Olympiasieger ins Ziel kommen. Wenn das gelingt, schmeißen die anderen Acht ihn nach guter Tradition ins Wasser. (Foto: Ina Fassbender/dpa)

Das Gegenteil von diesen Älteren oder Angeschlagenen befindet sich in der dritten, größten Gruppe: Recht plötzlich erschienene Talente, die sich mit Recht etwas ausrechnen, während sie unerkannt im Erwartungs-Off antreten. Schwimmer sind dabei, manche Leichtathleten, Ringer, die jungen Turnerinnen Sophie Scheder und Pauline Schäfer, Säbelfechter Max Hartung und Matyas Szabo, große Teile der beiden Hockeyteams und auch der Handball-Nationalmannschaft, die zwar im Januar überfallartig Europameister wurde, aber trotzdem noch keine routinierte Mannschaft ist.

Die Olympiamannschaft 2016 ist also vielschichtig, aber sie ist eben auch ein lebender Beweis dafür, dass Medaillen nicht gezüchtet und geerntet werden können wie Äpfel. Zurzeit tun manche Sportpolitiker wieder so, als wäre das möglich. Die sinnvolle Leistungssportreform wird begleitet von Kommentaren wie dem von Bundesinnenminister Thomas de Maiziere, der vor einem Jahr locker geschätzt hatte, dass 30 Prozent mehr Medaillen drin seien. Und zwar mindestens 30 Prozent, und: ohne eine Erhöhung des bisherigen Fördervolumens von 160 Millionen Euro jährlich.

Selbst wenn es gelänge, Karrieren gezielter zu fördern und Geld umzuleiten, das in Sportarten ohne Perspektive verschwendet wäre, so werden menschliche Leistungen immer von Zufällen gebremst. In vielen Einzeldisziplinen ist die Phase der Höchstleistung auf wenige Jahre begrenzt, und wenn der Athlet Pech hat, wie zum Beispiel der Turner Philipp Boy in London 2012, dann erwischt er im idealen Alter von 24 mehrere Verletzungen ausgerechnet im Olympiajahr, und der Karrierehöhepunkt fällt flach.

Deutsche Tennis-Hoffnung: Dustin Brown aus Winsen an der Aller. (Foto: Julian Finney/Getty Images)

Womöglich werden die Spiele 2016 und die Stimmung im deutschen Haus unten am Strand von Barra tatsächlich etwas entspannter. Einerseits, weil es weniger Enttäuschung über sicher geglaubte und dann doch verlorene Medaillen gibt; andererseits, weil man allgemein nicht mehr weitermachen kann wie bisher. Die Manipulationen in anderen Ländern, die von oben verordneten Erfolge der Heim-mannschaften und das russische Staatsdoping haben das Länderwettrennen bei Olympia ins Absurde geführt.

Selbst Alfons Hörmann, der deutsche Sport-Chef, plädiert für andere Maßeinheiten statt der Platzierung, zum Beispiel für Charakter, Herzblut und Leidenschaft, der dpa sagte er nun: "Nach dem, was vor den Spielen in Sachen Doping alles diskutiert wurde, sollten andere Werte für das Olympia-Team im Vordergrund stehen als nur die absolute Zahl von Medaillen." Der Medaillenspiegel hat plötzlich an Magie eingebüßt.

© SZ vom 04.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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