1. FC Nürnberg:Der Club ist kein Depp mehr

Lesezeit: 3 min

Beim 1:1 gegen Bochum verspürt Nürnberg die Last gestiegener Ansprüche. Mit ihrem neuen Ruf kommen auch neue Probleme: Plötzlich muss der Club das Spiel machen.

Volker Kreisl

Seit geraumer Zeit ist ja alles anders beim 1. FC Nürnberg, der Club, so scheint es, ist kein Depp mehr.

"Was? Ich kann Euch nicht hören? Spitzenreiter?" Jan Polak nach seinem Tor. (Foto: Foto: ddp)

Das Image vom Deppen hatte sich dieser Verein über Jahre hinweg hart erarbeitet mit Eigentoren, Skandalen und perfekt organisierten Saisonabschlussfesten, die keiner feiern wollte, weil man kurz zuvor abgestiegen war.

Entscheidende Gegentore hatte der 1. FC Nürnberg meistens zwischen der 88. und 93. Minute kassiert, weshalb früher jeder Nürnberger tief durchgeatmet hätte, wenn der Schiedsrichter beim Stande von 1:1 gegen den VfL Bochum in der 90.Minute pünktlich und ohne Nachspielzeit abgepfiffen hätte.

Ein Punkt gegen den Tabellenletzten muss man erst mal holen! Heute ist das anders, heute pfeift Schiedsrichter Manuel Gräfe nach 90 Minuten und null Sekunden ab, das ganze Stadion protestiert, und Nürnbergs Betreuer schütteln heftig den Kopf. In zwei Minuten hätte man den Sieg locker noch geschafft!

Der 1. FC Nürnberg stand bis Sonntagabend noch an der Tabellenspitze, und diese eins vor dem Vereinsnamen versetzte die Beteiligten allesamt in große Verzückung. Zuvor schon hatten die Fans mit erstaunlicher Lautstärke immer wieder "Spitzenreiter, Spitzenreiter" gerufen, und man kann sich vorstellen, wie das schon die ganze Woche über ging, im Betrieb, in der Kneipe oder, ganz leise, nachts vor dem Einschlafen. Die Fans hatten vom Spitzenreiter einen klaren Sieg gegen Bochum erwartet, deshalb war die Stimmung nach Spielende gedämpft, aber auch das war ja Ausdruck des Selbstbewusstseins.

Erstmals wieder mit Mintal

Die Spieler traten später vor die Presse, und sie sprachen trotz des 1:1 in der Sprache der Sieger. Dass man seine Chancen eben nicht verwertet habe, sagte Ivan Saenko, oder dass man sich schwer getan habe gegen eine dichte Bochumer Abwehr, und auch dass man sich müde gefühlt habe. Immer werden die Nürnberger Profis gefragt, wie sie sich fühlen, so als Tabellenführer, und dann tun sie das ab, "der Vorsprung vor den Bayern ist egal", sagte Jan Polak. Aber er lächelte doch, und hinter all den Siegerphrasen verbarg sich leiser Stolz.

Denn nun haben sie einen anderen Ruf und damit auch andere Probleme. Der 1.FC Nürnberg muss plötzlich das Spiel machen. "Es ist schön, wenn man beim Tabellenführer eine Punkt mitnimmt", sagte Bochums Trainer Marcel Koller, der nicht das frühe Tor von Theofanis Gekas als wichtigsten Fortschritt für seine Mannschaft ansah, sondern die konzentrierte Leistung der Abwehr: "Wir haben in der Defensive sehr gut gespielt."

Marek Mintal, seit seinem Mittelfußbruch zum ersten Mal wieder von Anfang an im Einsatz, hatte es meistens mit zwei Bochumern zu tun. Markus Schroth trat 90 Minuten lang kaum in Erscheinung, Saenko verdribbelte sich pausenlos, Flanken kamen aus keiner Richtung an, den Ausgleich erzielte Jan Polak aus 20 Metern Entfernung. "Wir sind es gewohnt, Freiräume zu haben", sagte Saenko, aber Freiräume gibt es vorerst nicht mehr.

"Wir konnten mit der Tabellenführung nicht umgehen"

Dass Saenko noch seine Nebenhöhlenvereiterung spürte, oder dass Schroth bis vor wenigen Tagen noch eine Mandelentzündung hatte, erwähnte Trainer Hans Meyer erst gar nicht. Er ätzte lieber gegen die gestiegenen Ansprüche, gegen die Pfiffe gegen Rechtsverteidiger Dominik Reinhardt, die Meyer äußerst ungerecht fand, und beurteilte die Nürnberger Realität als verzerrt. Meyer sagte: "Heute war so ein typisches Spiel, nach dem manche sagen, das war aber richtig scheiße, weil wir nicht mehr getan haben, für die .. .," und jetzt schüttelte Meyer den Kopf: " . . . Tabellenführung!"

Die Tabellenführung über den Samstag hinaus war ja überhaupt nur möglich, weil die Bayern und auch alle anderen Mitstreiter verloren hatten, sie war nur eine flüchtige Begleiterscheinung am Valznerweiher. "Wir waren nicht spritzig genug", sagte Meyer, "wir konnten mit dieser Tabellenführung offenbar nicht umgehen." Die Innenverteidigung leistete sich ungewohnte Stellungsfehler, auch Tomas Galasek und Jawhar Mnari wirkten im defensiven Mittelfeld zeitweise nervös.

Das Luxusproblem des Ligabesten hat Meyers Mannschaft seit dem Sieg der Hertha gegen Schalke nicht mehr, entscheidend ist ohnehin, ob sie das Selbstbewusstsein des Sommers in den Spätherbst mitnimmt, wenn die Nürnberger gegen schwere Gegner antreten müssen. Eigentlich kann das nicht so schwer sein. Die Abwehr ist jung, aber wissbegierig, das Mittelfeld ist solide, der Sturm fast sogar überbesetzt. Und wenn der Anhang noch aufhört, die Tabellenführung zum Maßstab zu nehmen, dann bleibt es vielleicht für immer dabei: Der Club ist kein Depp mehr.

(SZ vom 18.09.2006)

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: