0:1 gegen Italien:Rechenstunde mit blauem Auge

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Ein Tag zum Wegwerfen - der Wolfsburger Yannick Gerhardt zieht demonstrativ die U21-Bilanz beim 0:1 gegen Italien. (Foto: Stephen Pond/Getty Images)

Die deutschen Junioren erreichen das Halbfinale der U21-EM - aber ein kurioser Turniermodus lässt nach dem 0:1 gegen Italien wilde Theorien aufkommen.

Von Ulrich Hartmann, Krakau

Im Augenblick der Erfüllung konnten sie nicht mal jubeln. Die deutschen U 21-Fußballer hatten das ersehnte Halbfinale erreicht - und schlichen trotzdem missmutig vom Platz. Das war ein seltsames Szenario, weil genau dieses Halbfinale doch die letzte Zwischenstation auf dem Weg zum erhofften Titel ist. Als am Samstag um 22.34 Uhr im Cracovia-Stadion feststand, dass Deutschland es tatsächlich unter die letzten vier dieser U 21-Europameisterschaft geschafft hat, da schauten die Spieler immer noch so entsetzt, als seien sie gerade knapp einem Unfall entgangen. Und genauso war es ja auch: Ein einziges weiteres Gegentor im letzten Gruppenspiel gegen Italien hätte den Traum der jungen DFB-Fußballer zerstört.

Es sei "kein Fair Play", auf ein Ergebnis zu spielen, kritisiert der slowakische Trainer Pavel Hapal

Trotz vorangegangener souveräner Siege gegen Tschechien (2:0) und Dänemark (3:0) hätte die Mannschaft von Trainer Stefan Kuntz nach diesem dritten Spiel plötzlich mit leeren Händen dagestanden. "Wir waren in einer Art Schockstarre, weil wir alles zu verlieren drohten", sagte der Schalker Mittelfeldspieler Max Meyer später, "wir wären ausgeschieden - und keiner hätte so richtig gewusst warum."

Am Ende verloren die Deutschen gegen harte, aber auch reifer wirkende Italiener nur mit 0:1 - und erreichten gemeinsam mit dem Kontrahenten das Halbfinale. Elf Minuten vor Schluss, als Andrea Conti fast das zweite Tor für Italien erzielt hätte, rutschte dem bereits ausgewechselten Meyer auf der Ersatzbank "das Herz in die Füße" - aber weil Conti vergab und zudem im Abseits stand, kam die DFB-Elf "mit einem blauen Auge davon", wie Stefan Kuntz meinte. Und Sportdirektor Horst Hrubesch berichtete später entnervt, er habe sich die komplette letzte Viertelstunde des Spiels nach dem Abpfiff gesehnt. Dass die packende Partie in den letzten Minuten in eine Art Nicht-Angriffspakt mündete, wie ihn 1982 Österreicher und Deutsche (inklusive Hrubesch) bei der WM in Gijon praktiziert hatten, erschien ihm verständlich und nicht allzu verwerflich. "Am Ende waren ja beide Mannschaften mit dem Null-zu-eins zufrieden", sagte Hrubesch.

Eine Meinung, die der Trainer der slowakischen U 21 auf keinen Fall teilen konnte: Pavel Hapal, als Profi in den Neunzigern bei Bayer Leverkusen aktiv, nannte es "eine Schande, was die Deutschen und Italiener heute gezeigt haben". Er sei "unglaublich enttäuscht". Wäre das Spiel in Krakau anders ausgegangen, hätte die Slowakei als bester Gruppenzweiter das Halbfinale erreichen können. "Es ist kein Fair Play, auf ein 0:1 zu spielen", kritisierte Hapal und forderte Konsequenzen, "jemand sollte etwas unternehmen, auch wenn es ein so großes Land wie Deutschland betrifft".

Schuld an den emotionalen Wirrungen war aber vor allem der kuriose Turniermodus, bei dem neben drei Gruppensiegern auch der beste Zweite ins Halbfinale einzieht, wodurch ein Wust an rechnerischen Eventualitäten entstand. Hätten die Italiener etwa noch das 2:0 erzielt, wären die Deutschen raus gewesen, und im Hotel hätten die Slowaken gejubelt: Sie wären dann bester Gruppenzweiter gewesen. Hätten die Deutschen hingegen das 1:1 geschossen, wären die Italiener raus gewesen, und die Slowaken hätten ebenfalls gejubelt. So aber mussten die Slowaken am Fernseher verfolgen, dass den Deutschen und Italienern das Risiko, ein vernichtendes Gegentor zu provozieren, am Ende zu groß erschien - zumal die Tschechen im Parallel-Spiel gegen Dänemark zurücklagen. Hätten die Tschechen gegen Dänemark gewonnen, hätten sie die Italiener auf Platz drei verdrängt, weshalb die Italiener lange auf ein zweites Tor drängten. Die Tschechen wiederum hätten das Halbfinale als bester Zweiter erreichen können, wenn sie Dänemark mit drei Toren Differenz besiegt hätten. Es war eine einzige wilde Rechnerei.

In der Kabine waren die Deutschen kurz nach dem Spiel noch überwältigt und auch gereizt von den Unwägbarkeiten der Partie und auch von der Erkenntnis, vorübergehend die Nerven verloren zu haben. Ihnen war nach Italiens Führung durch Federico Bernardeschi nach einer halben Stunde spielerisch so gut wie nichts mehr gelungen. Der Trainer Kuntz hat sich einstweilen aber entschlossen, diesen Umstand zu einer nützlichen Lebensweisheit zu stilisieren. "Wenn du als Fußballer überdurchschnittlich werden willst", behauptete er, "musst du solche Erfahrungen machen und daraus lernen." Erkennen will er diesen Fortschritt bei seinen Spielen bereits im Halbfinale am Dienstag, wenn sie in Tychy auf England treffen (18 Uhr, ARD).

Das Halbfinale mit den Partien zwischen Deutschland und England sowie Spanien und Italien dürfte das nominell wohl beste Halbfinale in der 35-jährige Historie der U 21-EM sein. Die Italiener mit fünf, die Spanier mit vier und die Engländer mit zwei EM-Titeln sind die erfolgreichsten Teams in diesem Juniorensegment. Die Deutschen träumen trotz der Niederlage gegen Italien trotzig vom zweiten EM-Titel nach 2009 (4:0 gegen England). "Im Halbfinale brauchen wir nicht mehr zu rechnen, da gibt es nichts mehr zu berücksichtigen", sagt Max Meyer. "Da sind die Verhältnisse klar, und das macht es für uns einfacher."

Dass die DFB-Elf durch das 0:1 gegen Italien im Halbfinale nun auf England trifft und nicht auf die übermächtig erscheinenden Spanier, war eine Konsequenz, mit der sich die Deutschen am Ende sogar etwas trösten konnten. Das sei, meinte Max Meyer lächelnd, "ein schöner Nebeneffekt".

© SZ vom 26.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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