Das Ziel liegt noch fern am Morgen. Genau gesagt vier Stunden. Denn so lange dauert die Meditation, die Christoph Gerling den Teilnehmern seines Seminars abverlangt, bevor sie tatsächlich zum Bogen greifen werden. Gerling hat in Anlehnung an das zeremonielle, japanische Bogenschießen "Kyodu" Ende der Achtzigerjahre sein eigenes Konzept entwickelt. Wenn er fragt, wie sich jeder einzelne Kursteilnehmer selbst wahrnimmt, ist das kein rhetorisch eingesetztes, gruppendynamisches Kennenlern-Vehikel für die zehn Seminaristen, sondern die erste Bewusstseinsübung: Die Bogenschützen sollen ihrer inneren Motivation nachgehen, sich bewusst sein, warum sie hier sind. Einige Teilnehmer suchen Ruhe oder Distanz von zu Hause, andere sind neugierig und möchten den Umgang mit Pfeil und Bogen lernen.
Es folgt ein "Moment der Stille". Ruhe. Mancher atmet schwer, jemand bewegt sich, es raschelt. Die Auflösung im Hier und Jetzt will nicht so recht gelingen, innere Stimmen verschwören sich gegen das "Nichts", das irgendwo zwischen den Atemzügen liegen soll. Es herrscht noch ein wenig Unausgeglichenheit zwischen Besinnlichkeits-Yin und Bewegungs-Yang.
"Das Bogenschießen ist keine rein körperliche Übung, sondern eine innere Haltung, die man nicht mit dem Kopf erreicht. Man muss sich seiner Körpermitte bewusst sein", erläutert Gerling. Der Ort ist leicht ausgemacht: Es ist der Bauch. Und auf den wird jetzt die Hand gelegt. Gerling geht durch die Runde und gibt jedem Teilnehmer erst einen leichten, dann einen kräftigeren Schubs.
Wie Kegel geraten sie kurz ins Taumeln, kommen aber nicht zu Fall und finden schnell in den festen Stand zurück. Nun die Hände auf den Kopf. Ein leichter Stoß und schon verlieren die Bogenschützen ihr Gleichgewicht. Das Ziel ist Absichtslosigkeit. "Nur dann", so Gerling "kann man das Kraftfeld des Gegners positiv nutzen." Angst blockiert den Fluss der Energie. Gerlings Übungen fördern die Körperstabilität und sie sollen auf die anschließende Praxis des Bogenschießens vorbereiten. Wie man einen Bogen hält und spannt, ist schnell gelernt: Man greift ihn im 90-Grad-Winkel, die Knie sind locker. Dann tief ausatmen und den Bogen spannen. Regelmäßig und ruhig atmen und die Spannung halten. Der Arm, der den Bogen hält, beginnt leicht zu zittern. Jetzt ausatmen und die Spannung auflösen.
Das Bogenspannen ist der erste große Vorgang des meditativen Bogenschießens. Jetzt geht es darum, die eigene Kraft zuzulassen, ohne sich zu verkrampfen. Denn keinesfalls darf das Spannen als Kraftakt empfunden werden. Die erste Aufregung entsteht, wenn der Pfeil ins Spiel kommt. Jetzt wird der Bogen zur Waffe. "Mit dem Abschuss gebe ich die Kontrolle auf. Und Kontrollverlust macht erst einmal Angst", sagt Gerling. "Aber nur dann, wenn ich mir nicht vertraue."
Nun geht es hinaus in den Garten. Die Teilnehmer stehen rund einen Meter vor der Zielscheibe. Ausatmen, den Bogen spannen, die Spannung halten und den Moment empfinden, in dem die Kraft sich "auflösen" will, schließlich den Pfeil abschießen. Der Abschuss ist ein passiver Vorgang. Gerling versteht Bogenschießen nicht als einen vergnüglichen Sport, sondern als Lebensschule. Der Mittelpunkt der Zielscheibe ist uninteressant. Auf die Entwicklung einer inneren Haltung kommt es an. Das Wichtigste beim Bogenschießen sei, Vertrauen zu sich selbst und ein positives Verhältnis zur eigenen Kraft zu entwickeln. Selbst wenn der Pfeil daneben geht. Das Ziel ist nah.