Venedig:Die Nachbarn

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Sie machen Geräusche, aber sie zeigen sich nicht.

Nachts klopft jemand ans Fenster. Scheint dringend zu sein. Als Herr N. sich auf Zehenspitzen anschleicht, sieht er: Regen. Der Nachbar gegenüber, ein Meter fünfzig Luftlinie, zieht mit geübtem Griff seine Fensterläden zu. Herr N. lehnt sich hinaus, angelt verzweifelt. Der Wind macht sich einen Spaß daraus, ihm die schweren Holzläden immer wieder vor das Gesicht zu schlagen.

Wie von unsichtbarer Hand werden Fensterläden geöffnet und geschlossen. (Foto: Foto: renatus / Visipix)

Als Herr N. das Fenster endlich geschlossen hat, ist er patschnass. Kann nicht schlafen. Weil der Regen ein paar glückliche Betrunkene zu einem fröhlichen Liedlein inspiriert. Wenig später dämmert es, treibt der Straßenkehrer scheppernd die weggeworfenen Bierdosen vor sich her. Direkt nebenan flext außerdem einer ein ganzes Haus weg. Wie der Kardinal das wohl aushält? Als Herr N. nachsehen will, schließt gerade eine Nonne verschämt die Fensterläden.

Diese Nachbarn! Es gibt welche, das weiß Herr N. genau. Zum Beispiel die Tauben, die morgens über die Terrasse sausen. Und den unsichtbaren Kardinal, drei Meter Luftlinie. Fünf Meter Luftlinie entfernt steht eine Dachluke offen. Manchmal brennt dort Licht. Schräg unter seiner Terrasse verwaist eine andere, auf der hartnäckiges Grünzeug wächst, das niemand je gießt. Auch die riesige gelbe Mülltonne steht da, als hätte sie noch nie jemand heruntergetragen.

Vom Nachbarn neben seinem Schlafzimmer hat Herr N. gestern Nacht immerhin die Hände gesehen. Die grünen Läden am anderen Nachbarhaus sehen so aus, als würden sie abfallen, falls jemand versuchte, sie zu öffnen. Im Stockwerk unter Herr N. residiert die Assoziazione di Gondolieri. Die schwere Holztür ist immer verschlossen.

Versuchsweise begibt sich Herr N. in ein weit entferntes Viertel. In Dorsoduro soll Venedig noch praktisch touristenfrei sein. Herr N. überquert den Kanal, geht über die hölzerne Akademiebrücke. Gondolieri in Ringelpullis und Strohhüten rudern ihre Ladung Urlauber durch das trübe Kanalwasser. Von wegen singen! Nur ein paar Japaner haben sich einen Akkordeonspieler samt Tenor gemietet, der in der flachen Schaluppe inbrünstig spanische Schnulzen schmettert. Vorbeisausende Wassertaxis schleudern ihre Bugwellen gegen die Gondelreling.

Dorsoduro ist wunderbar. Leer. Weil Herr N. immer noch keine Venezianer kennen lernt, beschließt er, ihre Geschichten zu erraten.

Auf einer traurigen Steinbrücke sitzt eine junge Frau, zieht hektisch an ihrer Zigarette und horcht auf eine Stimme, die unablässig aus ihrem Handy quillt. Ihr Freund will sie gerade verlassen, denkt sich Herr N., sie kann es noch nicht glauben. Ein uralter Mann lugt aus einem ebenso alten Gebäude, überquert in Zeitlupe die Straße und schließt einen heruntergekommenen Laden auf, in dem verstaubtes Gerümpel auf bessere Zeiten wartet. Seit zehn Jahren ist der Laden schon geschlossen, rät Herr N., aber der Alte kommt trotzdem jeden Tag, um nach dem Rechten zu sehen.

Als Herr N. aus seinen Überlegungen aufwacht, bemerkt er eine üppige, sonnenbebrillte Frau mit sehr roten Lippen, die ihn fixiert. Nahezu gierig. Herr N. ist sich plötzlich gar nicht so sicher, ob er unbedingt Venezianer kennen lernen will.

Vorsichtshalber flüchtet er ins Guggenheim-Museum. Milliardärin müsste man sein. Einen Garten wie Peggy haben! Dagegen kommt einem die eigene gemietete Terrasse kümmerlich vor. Zwei Italiener starren interessiert auf die nackte Männlichkeit der Reiterskulptur an der Kanalseite. "Ziemlich riesig", findet auch Herr N. und bleibt stehen.

Was reden die da? Früher sei immer ein Vorhang heruntergelassen worden, weil die vorbeischippernden Dogen die Ungeheuerlichkeit nicht sehen sollten? Später habe Peggy Guggenheim das Glied einfach abgeschraubt, wenn die hohen Herren auf dem Kanal unterwegs waren? Herr N. tritt näher und denkt: Vielleicht kann man es abschrauben. Sieht sich vorsichtig um, ob ihn jemand beobachtet und fasst dann beherzt zu. Rüttelt und schraubt. Vergeblich. Das bronzene corpus delicti sitzt fest.

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