24 Stunden in Brandenburgs neuem Pseudo-Paradies Tropical Islands:Die Südsee in der Tonne

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Tattoos, rosa Bikinis, viel Bier und eine ungeheure Sehnsucht - warum und für wen die Kunstwelten die Erfüllung aller Träume sind.

Von Gerhard Matzig

Der Utopist, heißt es, sehe vor allem das Paradies. Der Realist dagegen sehe vor allem die Schlange. Das sieht die junge Frau, ganz Realistin, auf dem Parkplatz genauso: "Du blöder Spanner", herrscht sie ihren Freund an, "die Fette im rosa Bikini hat dir gefallen, was? Von mir aus kannst du mit ihr allein zurückfahren. Du Arsch. Allein mit ihr und ihren großen Titten."

Ein Grund zu lächeln? - Brandenburgs neues Bade-Paradies Tropical Islands. (Foto: Foto: ddp)

Dann schließt der Busfahrer die Tür, und es ist nicht mehr zu hören, was ihr Freund antwortet. Beide sind kaum älter als 20. Es ist jetzt halb eins in der Nacht zum Montag, es hat geschneit - und der Sonntag ist gelaufen. Die Schlange trug offenbar einen rosa Bikini.

Das Paradies darf man sich aber nicht nur als Ort lärmenden Geschreis vorstellen. Es kann dort auch sehr friedlich zugehen. Zum Beispiel umtanzt gleich neben dem Bus ein älteres Paar seinen schon leicht angebeulten Renault Clio und kratzt in einer harmonisch-vertrauten, in vielen Ehejahren treulich eingeübten Winter-Choreographie das Eis von den Fensterscheiben.

"Wie in der Südsee. Oder?"

"Gott, war das schön", sagt er. Und sie: "Hmmm. Südsee. Wie in der Südsee. Oder?" Und er: "Ja. Wie Gran Canaria. Schön."

Dann fahren die Clio-Seufzenden den Bus-Schweigenden hinterher. Der Bus heißt Shuttle, weil er zwischen dem neuen, mitten im Spreewald eröffneten Themenpark "Tropical Islands" und dem alten Bahnhof in Brand hin- und herpendelt.

Auf dem mittlerweile fast leeren Parkplatz, über den der Wind heult, als habe er Sehnsucht nach ein bisschen Gesellschaft, bleiben eine leere Bierflasche und ein kaputter, schlaff gewordener Schwimmflügel mit TÜV-Zeichen zurück. Und eine seltsame Stimmung.

Das neue, 70 Millionen Euro teure Tropen-Paradies - Themenpark, Erlebnisbad und regionaler Hoffnungsträger in einem - sieht aus der Parkplatz-Perspektive wie eine gigantische und zugleich geheimnisvolle Tonne aus, die von irgendwelchen Riesen mit unternehmerischer Schöpfungswut in den Schnee gerammt wurde.

Anhören tut sie sich dagegen wie eine zu groß geratene Dorfdisko, deren DJ betrunken über das Mischpult gefallen ist und dabei alle Regler auf einmal nach oben gerissen hat. Bumm. Bumm. Bumm. Das Paradies singt: "Ceeelebraaation, woo-hooh, woo-hooh, here's a party going on right here, woo-hooh." Bumm. Bumm. Bumm.

Kampfjets auf dem Weg zum Alex

Vor wenigen Jahren war der Parkplatz noch eine Betonpiste. Erbaut für die russischen Kampfjets, die von hier aus in fünf Minuten am Alex in Berlin sein konnten. Jetzt dient das Areal zivileren, aber nicht minder bombigen, ja höhenflughaften Plänen. Der tropenwarm aufgeheizte Themenpark soll einschlagen. Er muss.

Und zwar ausgerechnet in einer Region, die unter anderem von Arbeitslosigkeit, Bildungsarmut, schrumpfenden Städten und wachsenden Neonazi-Horden gekennzeichnet ist. Aber nicht nur: Der Spreewald, in dem die Orte Krausnick oder, sehr schön, Lieberose heißen, besitzt auch landschaftliche Anmut und tradierte kulturelle Identität. Jetzt wurde dieser Identität das "einzig authentische Tropenparadies in Europa" gestiftet.

Wie in der Südsee. Oder? (Foto: Foto: ddp)

Irgendwo zwischen dem sorbischen Ostereiermarkt, den Spreewald-Gurken und dem Landgasthof "Zum grünen Strand der Spree", so das Kalkül der Investoren, muss es eine ungeheure Sehnsucht danach geben, Brandenburg zu entfliehen. Ostdeutschland zu entfliehen. Deutschland zu entfliehen. Europa zu entfliehen.

Lange polnische Winter

Am besten in ein lediglich sich selbst genügendes Paradies. Vier- bis fünftausend Besucher müssen nun diese sehr spezielle Tropenlandschaft auf dem ehemaligen Terrain des Krieges mit ihrer Friedens-Sehnsucht bevölkern, damit sich die ehrgeizige, vielleicht kühne, vielleicht tollkühne Unternehmung "rechnet".

Täglich. Und zwar an 365 Tagen im Jahr. 16 Millionen Menschen, haben sich die neuen Himmelreich-Hausherren ausgerechnet, leben nur drei Autostunden von Brand entfernt. Und die langen Winter können wirklich verdammt kalt sein in Brandenburg oder Polen.

Das Strand- und Insel-Paradies will also vor allem ein nahes Eiland wärmender Zuversicht sein. Direkt vor der deutschen Haustür und 60 Kilometer südlich von Berlin gelegen. Mit einem künstlich implantierten, immerhin 15 Meter hoch sich reckenden Regenwald. Inklusive größtem Indoor-Strand der Welt. Einschließlich 4000 Quadratmeter Südsee.

35 Grad am Strand - versprochen

Plus Hawaii. Plus Tahiti. Plus "Weihnachtsmarkt unter Palmen". Plus Bühnenzaubershow "Viva Brasil". Plus Beachparty. Plus Beachvolleyball. Plus Tropendorf samt Thai-Haus, Borneo-Langhaus oder Kenia-Lehmhütten. Plus Bali-Lagune.

Aus der Luft muss dieses Indoor-Paradies globalistischer Verschraubungen aussehen wie eine dieser mal kitschigen, mal ironischen, mal kindertraumhaft ernst zu nehmenden Schüttelkugeln, in denen man es schneien lassen kann.

Nur wäre der Schnee bei den versprochenen 25 Grad (am Strand: 35 Grad) bald zerschmolzen wie ein unwirklicher Traum, an den man sich beim Aufstehen nicht mehr erinnern kann. Manchmal weiß man nicht mal genau, ob es ein böser oder ein guter Traum war.

Am Eingang der Pool-Landschaft Tropical Islands, die in die größte "freitragende", also stützenlose Halle der Welt hineingezwängt ist, erhält man kleine Kreditkarten. Mit diesen Karten wird alles abgerechnet: der Eintritt natürlich (vier Stunden Aufenthalt kosten pro Person, an einem Sonntag beispielsweise, 20 Euro), aber auch das Mittagessen.

Das Paradies, ein Hotelzimmer?

Zum Beispiel jenes aus dem "deutschen Paradies" (Bockwurst, Sauerkraut) oder das Mittagessen aus dem "italienischen Paradies" (Penne) oder das Mittagessen aus dem "amerikanischen Paradies" (Giant Burger). Auf den Kreditkarten steht: "Ihr Schlüssel zum Paradies". Man solle ihn bitte nicht verlieren. Was sich denkwürdig lakonisch anhört: als wäre das Paradies ein Hotelzimmer.

Allerdings ist der Schlüssel womöglich auch ein Schlüssel zum Verständnis unseres Landes. An keinem anderen Ort lässt sich so gut studieren, was passiert, wenn die deutsche Sehnsucht der deutschen Wirklichkeit begegnet.

Wenn das Fernweh in nächster Nähe gestillt und die Träume mit dem Busplan und den Bahnhof-Öffnungszeiten abgeglichen werden. Wenn die Utopie so aussieht wie eine etwas zu dicke Frau im rosa Bikini, derentwegen man richtig Ärger kriegt.

Wenn sich der Auszug aus dem exotischen Paradies anhört wie ein vulgärer Krach - ausgetragen zwar unter natürlichem Gezänk und im Schnee statt unter künstlich verpflanzten Palmen und Glühbirn-Sonnen, geschuldet aber eindeutig dem Paradies der Künstlichkeit.

Garten Eden auf Zeit

Deutschland, du Land der Hoffnung und zugleich Land der Enttäuschung, Land des Zweifels und des Vertrauens, Land der Lust und des Frustes, Land der vielen Luxus-Reisenden und der vielen Discount-Billigflieger: In Brand hat man dir ein eindrucksvolles und bizarres Denkmal gebaut.

Am vergangenen Sonntag wurde es zum großen Bestaunen freigegeben. Ein Garten Eden auf Zeit - und gewiss auch auf Kredit. Nun müssen die Menschen auch daran glauben. Ja, es ist eine Sache des Glaubens - eine große Sache: 360 Meter lang, 210 Meter breit, 107 Meter hoch, erbaut aus Stahlbögen, Glas und Hoffnungen. Der Potsdamer Platz aus Berlin würde mit seinen Hochhäusern bequem hineinpassen. Und die Freiheitsstatue von New York noch dazu.

Der Schöpfer dieser gewaltigen Kunstwelt, die zum Strandleben so viel Energie wie eine kleine Stadt benötigt, ist kein großer Gott, sondern ein kleiner Mann aus Malaysia. Er heißt Colin Au, hat sein Vermögen in der Tourismusbranche gemacht und trägt Jeanshemd, bequeme Hosen und Turnschuhe.

Am Sonntag steht er schon morgens um sechs Uhr parat (Early-Bird-Tarif von sechs Uhr bis neun Uhr: 10 Euro), um frühaufstehende Sehnsüchtige wie ein milde lächelnder Herbergsvater zu empfangen. Um ihnen die Schulden, Perspektivlosigkeiten und Zukunftsängste wie lästige Wintermäntel sanft von den Schultern zu nehmen.

Stellenweise zwanghaft zwanglos

Im Prinzip kann man 24 Stunden im Paradies in der Badehose verbringen. Manche machen das. Manche sind zusätzlich mit Adiletten und Tattoos bekleidet. Manche mit T-Shirts. Auf einem steht "Beach Queen", auf einem anderen "Suck my dick!" Es geht stellenweise zwanghaft zwanglos zu.

Angesichts der sechs Jungs vom ehemaligen Eisenhüttenkombinat Ost aus Eisenhüttenstadt, die ihren Betriebsausflug in den Tropen verbringen, könnte man auch an eine subtropische Ballermann-Filiale denken. Noch ein Bier? Noch ein Bier!

Es sind aber auch viele Familien und viele Kinder hier: Und in deren Augen ist wohl das größte Staunen, zugleich aber auch die größte Selbstverständlichkeit über dieses erwachsene Winterwonderbra-Land zu erkennen. Sie bauen Sandburgen. Kreischen. Nehmen ihre grotesken Gummitiere und Gummiboote mit in die Südsee, während Papi in sein Notebook hämmert. Das Internet ist kabellos verfügbar - überall in der Halle.

Vielleicht kann man sich im Jahr 2004 nicht einmal einen Ort wie diesen, der doch die Schnittmenge aller möglichen Welten und Weltvorstellungen definiert, ohne Tor zur Welt vorstellen.

Soll Papa doch googlen

Den Kindern ist das egal. Soll Papi doch "Tahiti" oder "Hawaii" mit der Suchmaschine googeln. Sollen die Tropical-Islands-Manager die zweigeteilte Showbühne am Strand doch ernsthaft als Tahiti und Hawaii ausweisen: Den Kindern ist ein Strand ein Strand. Kinder gehen mit den Suggestionsmaschinen der Erwachsenen erstaunlich souverän um.

Und tatsächlich scheinen die Kinder in den Kulissen von Brand mehr Spaß zu haben als ihre Eltern. Maren, 46 Jahre alt und aus Berlin, die gerade in der künstlichen Südsee zwischen Tahiti und Hawaii hin- und herpaddelt, sagt enttäuscht: "Der Strand riecht nicht nach Salz." Ihr Freund Götz ergänzt: "Und die Halle ist eine graue Montagehalle. Hier wurden ja mal Zeppeline gebaut."

Aber später wird Götz seine Maren dann doch aus dem Wasser tragen und unter Palmen betten. Kulissen und Regieeinfälle sind das eine. Interpretationen und die Macht der Phantasie das andere.

Die Branche der künstlichen Welten boomt. Fast täglich werden überall auf der Welt neue Themenparks eröffnet (allerdings auch wieder geschlossen). Sie heißen "Spaceparks", "Autostadt" oder "Movieworld". Allein in Deutschland belegen solche artifiziellen Hallen-Welten bereits mehr als fünf Millionen Quadratmeter. Der Freizeitforscher Horst Opaschowski nennt solche Anlagen "Kathedralen des 21. Jahrhunderts".

Skipiste in Dubai, Südseestrand in Brandenburg

Die Kulturkritik spricht dagegen von einer "freizeitkulturell fanatisierten Gesellschaft". Der größte und exklusivste Skihang der Welt entsteht übrigens gerade unter einer Glaskuppel in "Dubailand" - also in der Wüste am Arabischen Golf.

Der Wahnsinn solcher Kunstwelten, ihre unökologische Egozentrik und ihre banale Verkaufstüchtigkeit auf dem Feld der Träume, wird selten in der Öffentlichkeit diskutiert. Zuletzt aber doch. In Moskau. Dort war vor einigen Monaten die Tragwerkshülle eines Erlebnis-Bades eingestürzt.

Zu sehen waren Fernsehbilder von blutüberströmten Menschen in Badehosen, die sich verzweifelt durch meterhohen Schnee kämpften. Im Tropical-Islands-Ressort ist jedoch auch dieser Satz im Gästebuch nachzulesen: "Anlässlich meines 82. Geburtstages lernte ich hier zum ersten Mal die Südsee kennen. Es ist sehr schön."

Vielleicht liegen nicht nur Brandenburg und das Paradies nahe beieinander, sondern auch das Unglück und das Glück. Am Montag um elf Uhr vormittags regnet es im Paradies. Kondenswasser aus der Kuppel. Draußen, in Brandenburg, scheint die Sonne.

© SZ vom 23.12.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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