Station 4: mit dem Auto:Der Wille zum Meer

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Den grauen Herbst in München einfach eintauschen gegen Sonne in Italien und Palmen an französischen Küstenstraßen. In 24 Stunden mit dem Auto bis an den Atlantik.

Barbara Liepert

Vielleicht liegt das Ganze nur an diesen wenigen Akkorden, die aus dem Autoradio kamen, dum-dum-dideldudim-pam: Asked the girl what she wanted to be / she said: baby, can't you see / I wanna be famous, a star on the screen / but you can do something in between (quietsch): baby you can drive my car (dumdumdumdum) / Yes I'm gonna be your star.

(Foto: N/A)

Beatles, London, Dezember 1965. Gute Laune, damals. John Lennon fuhr einen Rolls Royce in psychedelisch bunten Yellowsubmarine-Farben, so bunt, dass sich die noblen Herren von der RR-Werkstätte weigerten, das entweihte Aristokratenvehikel zu warten. Lange her. Das einzige, was an diesem sehr trüben Morgen in München-Giesing bunt leuchtet, ist die Fototapete, die man durch ein erleuchtetes Fenster sieht. Fototapete. Hawai, mit Palme, rot glühendes Abendlicht. Unglaublich. Vielleicht machen sie dort nachts Südseeparties mit Hawaitoasts und Bikinis, und dann hängen sie die gelbe Gardine über die Schreibtischlampe, als Sonne. Auf der Tapete ist es mindestens 29 Grad warm, wahrscheinlich weht Wind, und mit Sicherheit ist der salzig.

Herbstliches Alltagsgrau

Das Einzige, was hier draußen salzig ist, ist das Streusalz, das sie bald wieder über die Straßen kippen werden. Es ist immer die selbe Straße, jeden Tag die selbe Entscheidung: Blinker raus, rechts zur Arbeit abbiegen, den blauen Wegweiser nach Lindau links liegen lassen. Jetzt, in diesem vollkommen ungoldenen Herbst, wo München insgesamt an einen Aschenbecher nach einer langen Party erinnert, leuchtet dieses Autobahnschild noch heller, Côte d'Azurblau.

Herbst, Dauernieselregen, Stau an den Baustellen, Johannes B. Kerner im Fernsehen, Menschen, die dreinblicken, als hätte ihnen jemand mit dem Fön auf den Kopf geschlagen, also: Jetzt doch nach Lindau abbiegen? Kurz Geld abheben, für ein paar Tankfüllungen, und dann los, auf die Autobahn nach Lindau, mal sehen, wie weit man kommt im Leben, wenn man Gas gibt, 24 Stunden lang, einen Tag lang so geradeaus wie möglich?

Langer Süden

Irgendwo am Ende der Stadt liegen zwei breite Spuren, die vorgeschriebenen Fünfzig sind vorbei, die in Plastikfolie verpackten Fahrradfahrer sind endlich verboten, der Motor dreht höher. Reicht Europa eigentlich, um 24 Stunden lang geradeaus zu fahren? Kommt man bis Gibraltar? Oder: Bis zum Nordkap? Richtung Norden steht man irgendwann mal in Dänemark. Nach Osten? Zu gefährlich. Richtung Wien? Schlaglöcher. Und vielleicht sind auch die Räder nach der ersten Pause nicht mehr am Auto. Also nach Süden, oder noch besser: nach Südwesten, in diese Richtung ist der Kontinent länger. mit Meer und Palmen untendran.

Der abgegriffene Führer "Frankreich Nord und West" aus einem Kölner Antiquariat liegt auf dem Beifahrersitz. Irgendwann kommt die Raststation Lechwiesen bei Landsberg. Die Mitarbeiter sagen ständig "woisch", "hasch" und "dusch". Die Damenabteilung eines japanischen Reisebusses verstopft den Eingang zur Toilette. "Georg, der Gewissenhafte" und "Rosemarie, die Sittsame" steht in lustig bunten Buchstaben auf großen Kaffeetassen im Regal gleich neben den Feuerzeugen, mit Vornamen, für 4 Mark 99. Maike, Maik, Mike, Manfred, Manuel. Alle nicht um ihre Namen zu beneiden.

Rast im Heidiland

Nach 227 Kilometern taucht ein braunes Schild mit weißen Kühen auf und kündigt das "Württembergische Allgäu" an. Es wird hügeliger, aber hinter den kahlen Stämmen der Fichten sind keine Rinder zu sehen, nur im Rückspiegel eine A-Klasse, die mit 200 Stundenkilometern vorbeifegt, als sei sie vom Elch verflucht. An der Raststätte Lindau verschwinden dicke Damen in neonkalten Toiletten. Sie kommen aus Stuttgart, tragen beige Handtaschen und wollen nach Lugano, "Sonne tanken". Viel Spaß, schnell weg hier.

Nach drei Verkehrshinweisen, die nichts Bedrohliches melden, kommt wieder eine Raststätte, diesmal mit der unangenehmen Aufschrift "Heidiland". Hinter Heidiland rauschen wilde Bergbäche, und die Wolken liegen wie fette, schmutzige Schafe auf den Bergen. Noch 103 Kilometer bis zum San Bernardino-Pass, aber Ziegen sieht man keine, nur ein paar Kühe, wie vor einer Stunde angekündigt. Bald kommt die Schneegrenze, die Bäume werden kahler und kleiner, als hätte der Berg sie fertiggemacht mit seinem Wind und den tödlichen allwinterlichen Schneemassen. Über die Passstraße wehen Nebelschwaden, die Bremslichter eines Alfa Romeo mit Mailänder Kennzeichen leuchten auf und spiegeln sich im Teer der Straße. Schon vor 941 sollen über den San Bernardino-Pass Jäger mit ihren Saumtieren gezogen sein, und weil die Schweizer ein bisschen traurig sind, dass diese Zeiten schon lang vorbei sind, haben sie in St. Moritz vor einigen Jahren "Das Maultierforum" gegründet, einen Verein zur Pflege des allmählich aussterbenden Lastesels. Das nur nebenbei.

Sonne gegen Lire

Oben auf dem San Bernardino ist es still und schön, man hört ferne Kuhglocken im Nebel, geduckte Häuser kleben in den Steilwänden. Die Luft ist jetzt feiner, aber kälter. 2065 Meter über dem Meeresspiegel: Es geht aufwärts, vorbei an in den Fels geschlagenen Tunnelwänden, durch gelb beleuchtete Autobahngalerien, in schlanken Kurven um den Berg. Der San Bernardino ist die bessere Alternative zum Brenner, um nach Italien zu kommen, es gibt weniger Campingmobile, keine porösen Ford Fiestas, die nach Rimini drängen, und man muss nicht durch Österreich.

Nach fast vier Stunden und genau 508 Kilometern tauchen die erste Zypresse und eine ernstzunehmende Sonne auf, in Lugano. Der Eintritt nach Italien kostet 2500 Lire und man bekommt dafür 26 Grad Außentemperatur. In Turin, bei Kilometer 613, stehen die Reisfelder unter Wasser, die Luft am Autogrill riecht nach Raps, Reifen und Espresso, darunter mischt sich der Chlorgeruch, mit dem die Espressomaschinen geputzt werden. Wie traurige Paravents, die nichts verhüllen, stehen ein paar Pappelreihen in der Landschaft. Morgens hört man manchmal die Schrotflinten der Rebhuhnjäger, die über die Felder ziehen. An einer der Zufahrtsstraße zur Autostrada steht eine afrikanische Prostituierte, mit wenig am Leib. Veronika, du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du ständig nur säufst, singt Adriano Celentano im Radio.

Mit dem Auto abheben

Die ersten Tunnel Richtung Mittelmeer: Das Licht hebt sich gelb und satt vom verblassenden Tageslicht ab: Man schießt in beleuchtete Röhren, fixiert einen Punkt und hält auf den Punkt zu, an dem das Licht am Ende des Tunnels und die weiß reflektierende Fahrbahnmarkierung eins werden. Der Motor brummt sein 25 Jahre altes vielzylindriges Lied, das Cockpit glänzt und alles ist perfekt, das Auto, die Gegenwelt, der ortlose Ort, an dem nur Ordnung und Schönheit, Stille, Pracht und Sinnenlust ist, wie das Baudelaire einmal schrieb, der leider nicht mehr in den Genuss gekommen ist, Auto zu fahren, das beste aller künstlichen Paradiese nie erlebt hat. Autofahren ist, vom Tanz abgesehen, vielleicht die einzige Erfahrung, in der das Gesamtkunstwerk aus Körperbewegung, Blick und Klang, aus optischen, akustischen und haptischen Eindrücken noch möglich ist: Die Windschutzscheibe wird zur Leinwand eines Films, dessen Soundtrack und Tempo der Fahrer bestimmt.

Meerromantik mit Alain

Die Luft am Ende des Tunnels wird feuchter. Eine Stadt mit zwei großen rotweißen Schloten und unendlich vielen Strommasten lenkt ab vom Horizont. Aber es besteht kein Zweifel: hier ist Meer, nur die Gegend ist grässlich, alle fahren möglichst schnell daran vorbei.

1008 Kilometer nach München liegt die Cote d'Azur: Hier sieht alles so aus, wie es Fitzgerald in Tender is the Night beschrieben hat. Langsam wird es dunkel, die Palmen werden schwarz gegen den roséfarbenen Himmel, der sehr kitschig und sehr schön aussieht und an die Giesinger Fototapete erinnert, nur dass dieses eben doch das echte Leben ist, oder zumindest das, was man dafür halten muss, wenn man einmal den Film La Piscine gesehen hat, in dem Alain Delon im Maserati Ghibli über die Küstenstraßen donnert, einem wilden und besseren, wahnsinnigen Leben entgegen. Später bringt er dann seinen Freund um, und die Raserei hat ein trübes Ende.

Weltraumkraken an der Küste

Langsam wird das Fahren anstrengend. Vielleicht ein paar Stunden schlafen? Also hinter Cannes abfahren, ein Hotel suchen. Vor einer Auberge bellen zwei Collies in die Nacht. Ein seltsamer Palast, den sie da bewachen, Futurismus in Altrosa, ohne Ecken mit eigenartigen Bullaugen. Sieht aus, als sei eine mit Kaugummis vollgefressene Weltraum-Krake hier über der Riviera abgestürzt. Kurzschlaf auf dem Parkplatz davor, bis zwei unschön anzusehende Typen von einer privaten Sicherheitsfirma ans Fenster klopfen: Dies sei eine Wohngegend, kein Campingplatz. Also Motor wieder an, tanken, weiter zum richtigen Meer, über Marseille zum Atlantik. Irgendwann taucht auf der rechten Seite, im Norden, der Schatten des nächtlichen Carcassonne auf, dann Toulouse. Auf FM Nostalgie spielen sie alte Gainsbourg-Lieder, je suis venu te dire, que je m'en vais / et tes larmes ne pourront rien changer / tu tes souviens des jours heureux, et tu pleures . . . dann Bayonne. Eine Frau steht an der Tankstelle, vielleicht nur eine unglücklich zurecht gemachte Spanierin auf ihrem Weg nach Bordeaux, zur High-Society-Weinverkostung. Vielleicht aber auch nur eine Baskin, über die ja schon viel Unsinn geschrieben wurde, in diesem einmaligen Frankreich-Führer unter dem Beifahrersitz zum Beispiel, wo es heißt: "Die Mädchen sind schön und lebhaft. Spottlustig veranlagt, schüchtern sie oft ihre Verehrer ein, die viel geschickter im Tanze sind, als in einer treffenden Erwiderung."

Guten Morgen in Bordeaux

Wenn man nicht aufpasst, landet man auf der Route Nationale 10 nach Norden, nicht nach Süden, fährt nach Bordeaux auf der gefürchteten Todestrecke; nirgendwo in Frankreich, heißt es, sterben mehr Menschen als hier, übermüdete Fernfahrer aus Spanien, gehetzte Geschäftsleute, die auf der viel zu schmalen, monotonen Strecke in eines der zahllosen Maisfelder rasen. Vor 200 Jahren waren hier noch Sümpfe, in denen es Malaria gab, in denen Schafhirten auf Stelzen ihre Herden bewachten, und, wie der alte Führer mitteilt, ihre Zeit mit "Strümpfestricken" verbrachten. Erst 1830 ließ ein gewisser Cambrelent das gigantische Feuchtgebiet mit einem genialen Trick trockenlegen: Er stellte fest, dass die Sümpfe von einer harten Erdschicht am Versacken gehindert wurden, einer Schicht, die man leicht durchbohren kann. Wenige Monate später lagen die Landes trocken und wurden mit endlosen Pinienwäldern aufgeforstet.

An diesem Morgen riecht es nach feuchtem Sand und Harz, die Luft ist warm. Morgens um neun tauchen die Türme von Bordeaux auf. Vielleicht die schönste Stadt von ganz Frankreich, gerade an so einem Morgen, an dem sie niemand zu bevölkern scheint. Wenn man die besten Seiten von Hamburg und Paris zusammenschraubt und dann am Atlantik abwirft, dann bekommt man ungefähr das, was Bordeaux ist. Wenn man vor Pessac in Richtung Meer abbiegt, kommt man schnell zur Düne von Pyla, die wie ein gelber Wal vor dem Meer liegt.

Es ist 24 Stunden später, der Atlantik ist ruhig, die Augenringe sind so schwarz wie die Bremsspuren, die hinter dem Parkplatz im Sand enden, als habe hier einer nicht warten können, ans Meer zu kommen.

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