Sierra Nevada:Selbstportrait im Wasserspiegel

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Gegen den religiösen Bildverlust helfen nur Augenspiele: In der Alhambra bündeln sich islamische und christliche Traditionen

Verena Auffermann

(SZ v.02.04.2002)

(Foto: N/A)

Wie idyllisch", murmelt Stefan mit den stechenden Augen des Mannes, der morgens in den Spiegel schaut und zu sich selbst sagt, das bin ich nicht. Der Blick durch die Windschutzscheibe fällt auf Karosseriewerkstätten, Getränkeabfüllfabriken, Möbellager, ein Drive-in und einen Hund, der unter einem Orangenbaum schläft, aber was zum Teufel sieht Stefan? Er sieht nicht, er ahnt, und bevor ich eine dieser Fragen stellen kann, auf die ich niemals eine Antwort bekomme, schwebt über dem Hinterteil eines mehrstöckigen Mietshauses eine weiß-glitzernde horizontale Linie. Es ist, das sehen wir nach der weiten Kurve, die Granadas Stadtautobahn schlägt, um die alte Stadt zu schützen und die neue mit den Systemen der modernen Welt zu verbinden, die Schneehaube der Sierra Nevada. Kein Olymp, keine von eitlen Götternasen verstopfte mythische Höhle, einfach eine weiße Silhouette, die das Auge nah heranzieht, obwohl die höchsten Berge knapp 3500Meter messen.

Es ist das schönste Spiel auf Reisen, die Augen reinzulegen, die Ungeduld vor dem Ziel in die Länge zu dehnen, die Minuten zu genießen, bevor die Mauern, Türme, Zinnen, die quadratischen und runden Öffnungen in den dicken Wänden auftauchen und die Realität alle Abbilder überblendet. Muhammad Ibn al-Ahmar aus dem Stamm der Beni Nasir beschloss 1238 den Bau dieser Verteidigungsanlage und nannte sie wegen des rötlichen Ockers der Mauern al- hamra. Zwei Jahre vor Baubeginn der Alhambra wurde Córdoba von den Christen zurückerobert, Sevilla erlebte das gleiche zehn Jahre später.

Man wusste, weshalb auf dem Hügel Sabica so viele Backsteine übereinander gestapelt und so viele Wachtürme in die Höhe gezogen wurden. Alle paar Meter ein Kontrollplatz, vom Torre Bermejas am Fuß des Hügels bis zum Torre del Aqua im Westen. Von den vielen Aussichtspunkten sah man, wenn sich ein Mückenschwarm näherte. Von hier verteidigte die Dynastie der Nasriden bis ins Jahr 1492 ihr kleines islamisches Königreich. Mit dem Fall Granadas hatten die "Katholischen Könige", Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien, ihr oberstes politisches Ziel erreicht. Am 2. Januar 1492 zog das Herrscherpaar in die Stadt ein, ein Maler dachte sich ein friedliches Bild mit schönen weißen Pferden und staubfreien Kleidern für die Schlüsselübergabe am Fuß der Alhambra aus. Der letzte der Nasriden, Muhammad XI., flüchtete nach Marokko. Nach Aufständen und der endgültigen Vertreibung der muslemischen "Mauren" 1609 verfiel die Anlage.

Erst der romantiksüchtige amerikanische Schriftsteller Washington Irving brachte die Alhambra durch seine Bücher zu Beginn des 19. Jahrhundert ins Gedächtnis zurück, heute gehört sie zum Unesco-Kulturerbe, und an Irving erinnern eine Gedenkplakette, der Name eines Hotels mit einem Cola-Automaten im Fenster und zwei Zimmer in der "Casa de los Tiros".

Die Alhambra ist kein Ort für Big Macs und Badeanzüge, obwohl der Traum des Menschen hier an einem Faden aus Wasser hängt. Das Wasser fließt in die großen rechteckigen Bassins, sprudelt in den vielen kleinen, oft ebenerdigen Brunnen, strömt aus den Rachen der berühmten, unter einem großen Becken stehenden Löwen in einem klirrenden halbrund abgezirkelten Strahl heraus. Das Wasser hatte viele Aufgaben zu erfüllen. Es war die Voraussetzung für das "angenehme" oder "luxuriöse" Leben, für die Gärten, den Schatten, die Früchte und die Perspektiven, gezeichnet mit Buchs und Myrte. Die Bassins dienten der Kühlung, der Spiegelung der Architektur, in ihnen verdoppeln sich die Fassaden, fängt sich das Licht der Himmelsdecke, Vögel trinken und baden darin ihr Gefieder.

Bewässerungssysteme gab es schon im römischen und im westgotischen Spanien, doch die Araber haben die Anlagen verbessert und verfeinert. Wer das nicht glauben will, hört die vielen aus dem arabischen stammenden Worte, die mit Bewässerung zu tun haben, vom Ziehbrunnen zum Eimer und atanot, dem Wasserrohr. Mit dem Ausbau des Bewässerungssystems wurde die Anpflanzung von Zitronen, Orangen, Oliven, Mandeln und Granatäpfeln möglich. Heute ist die Landschaft zwischen Granada und Córdoba ein riesiger neuangepflanzter Olivenhain, nach dem EU-Plan einer perfekten Geometrie in die rote Erde gesetzt.

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