Selbstversuch:Na, heute schon gehöppt?

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Skispringen ist Kopfsache: Am Mieminger Plateau in Tirol können Anfänger lernen, weit zu fliegen und dabei eine gute Figur zu machen. Von Thomas Becker

Vier Worte, fünf Silben - das reicht Frau, um Mann auf den Boden zu holen. "Bist halt nicht gehöppt." Schlimmer hätte sie es nicht sagen können. Alles war vorbei, das Essen abserviert, die Mutprobe bestanden, bravourös, wie der junge Mann dachte. Eigentlich wollte er nur noch ein paar Komplimente abholen. Er: "Wie hat's denn ausgesehen, als ich gesprungen bin?" Sie: "Bist halt nicht gehöppt." Zack, das saß. Frauen können grausam sein. Aber das war noch nicht alles. Der Vernichtungssatz: "Aber du hast soooo süß ausgesehen in deinem rosa Anzug." Süß! Skispringer sind nicht süß. Skispringer sind wilde Hunde, Draufgänger, verrückte Teufelskerle, sind mutig, tollkühn, schneidig, frech, furchtlos - aber doch nicht süß.

Skispringen: Dass sich da viel im Kopf abspielt, wissen wir spätestens seit Schmitt&Hannawald. Wer da runterspringt, muss mit sich im Reinen sein. Oder er hat wirklich Probleme. Nur: Wie sich das anfühlt, da oben auf der Schanze, das wissen nur wenige. Der gewöhnliche Couch-Potatoe kann unter lila Helme lugen und höchstens feststellen, ob eine Wimper zuckt. Aber was es für ein Gefühl ist, auf den Abgrund zuzurasen, das konnte er bislang nicht. Jetzt kann er. Am Mieminger Plateau, dem Feriengebiet zwischen Innsbruck und Fernpass. Am Holzeisbichl-Lift, gleich bei der Raiffeisenbank. Was er braucht? 175 Euro und "Gleichgewichtsgefühl oder Grundkenntnisse im Skifahren oder Langlaufen". Und mindestens zehn Jahre muss er alt sein. Sonst nichts.

"Fliegen wie die Adler" heißt der "Try&Fly-Skisprungkurs". Das klingt nach Karnevalsscherz, zumal der Organisator auch noch Karl Auer heißt und ein rechter Scherzbold ist. Sein Einladungsschreiben beginnt so: "Der Bakken ruft! Skispringen kann man lernen. Am besten ist man Finne, mutig und des Langlaufens überdrüssig." Es hat sich dennoch ein Dutzend Springwilliger unterschiedlichster Provenienz angemeldet: schwergewichtige Allroundsportler, ein Adam-Malysz-Fliegengewicht, Skilehrer und Sportskanonen im Alpin-Dress, rheinländische Jeansträger, zwei Frauen, ein Hamburger, der noch nie Skischuhe an den Füßen hatte. Das kann ja lustig werden, wird sich Kursleiter Franz Leiner gedacht haben. Gesagt hat er: "Ich trau euch 60 Meter zu." Endlich mal eine Zahl. Die ganze Zeit ging es um die eine Frage: Wie weit? 60 also. Skepsis in der Gruppe. Andere, kleinere Zahlen kommen ins Gespräch: "Mal nicht übertreiben!" Angeben kann man ja immer noch.

Der erste Sprungtag. Kaiserwetter, keine Wolke, prima Sicht - wie wohl die Thermik ist? Das Frühstück. Ganz normal oder doch lieber was Leichtes? Man will ja nicht soviel durch die Luft schleppen, siehe Hannawald, der Hungerknochen. Magen und Hirn einigen sich auf einen Kompromiss: Rührei und Müsli. Dann raus zum Bus, Schanzen wachsen ja nicht vorm Hotel. Nach zwei Minuten biegen wir von der Hauptstraße ab, rechts die Raiffeisenbank, links ein Feld samt Wäldchen. "Da sind wir", sagt der Fahrer. Hmm. Da steht das todesmutige Dutzend auf einem grünen, hart gefrorenen, topfebenen Acker. Skispringen? Weitenjagd? Wo bitte geht's zum Flugsteig? Aus dem gleißenden Sonnenlicht kommt Franz, der Chef, sieht die ungläubigen Blicke, zeigt zum Wäldchen rüber: "Da!" Ah ja, da ist sie: die Schanze. Naja, eigentlich sieht man nur eine schmale, sanft abfallende Schneise. Schon hat sich das mit den 60Metern relativiert.

Franz lässt keine Zeit zur Inspektion des Höllensprungs: Rutsch- und Schlitterübungen! Der 57-Jährige ist Lehrer am Skigymnasium im benachbarten Stams, der Kaderschmiede des österreichischen Wintersports. Sein Chef, Ex-Nationaltrainer Paul Ganzenhuber, hatte die Idee mit dem Adler-Kurs. Franz muss es ausbaden, schickt seine Schüler in Skischuhen übers Acker-Eis, um Beweglichkeit und Gleichgewicht zu testen: auf beiden Beinen und auf einem Bein, im Telemark-Stil. "Wie beim Trapezakt, wie eine Balancierstange benutzen wir die Arme. Ob ihr die Handgelenke abwinkelt oder nicht, ist eine ästhetische Sache." Nicht nur Weite zählt, auch Eleganz - ein anspruchsvoller Sport.

Standübungen: tief in die Hocke, Arme nach hinten und - abspringen, ins Leere. "Nicht kreuzhohl, schön rund bleiben." Und nochmal. Ohne Ski, im Flachen, auf der grünen Wiese. Ungeduld kommt auf. Ich will jetzt fliegen, Mann! Schließlich haben wir gestern von 60Metern gesprochen, oder nicht? Endlich ist Franz zufrieden: "Teilweise habt ihr schon ein bisschen Mut gezeigt." Prima, diese Pädagogen. Zur Belohnung heißt es Alpinski anziehen, den Babylift rauf und Pflugbögen mit abschließendem Bremspflug. Muss das sein? Es muss: "Ihr müsst nach der Landung bremsen können", sagt Franz und hat natürlich recht. "Und dass mir noch keiner über die Schanzen fährt." Drei Mini- Hügel hat er in den Hang gepflanzt; er nennt sie Rein-Schanzen zum Erlernen der Grundpositionen: Abfahrtshocke, Absprung, Landung.

Oben an der Bergstation Babylift, ein Panoramablick, in dessen Genuss Stefan, Sektion Hamburg, vorerst nicht kommt: Seine erste Liftfahrt endet noch in der Ebene, die Mittagspause wird ausfallen: Einzelunterricht beim Chef. Auch Hamburger können springen lernen. Der Rest der Truppe darf endlich ran: "Lassen wir's losgehen", sagt Franz - und lässt uns nochmal im Stehen springen. Kann man gar nicht oft genug üben. Dann die erste Schanze: gut und gerne 15Zentimeter hoch. Jeder Kinder-Skikurs würde seinen Skilehrer schräg anschauen, würde er das als Schanze verkaufen wollen. Egal, wir sind Weitenjäger, wilde Hunde, wie Franz vorher nahezu glaubhaft versichert hatte. "Ihr müsst keinen Schanzenrekord springen", meint er. Ein Meterstab würde genügen zur Weitenmessung. Dennoch: erste Lustschreie von Georg, dem Jeans- Träger aus der Sektion Rheinland. "Knie strecken in der Luft! Skispitzen nach oben mitnehmen zum Kinn!", ruft Franz.

Es folgt Schanze2: "Die geht ein bissl höher", warnt der Chef, "da habt ihr einen höheren Luftstand. Genießt die Luft, wir haben eine gute Luft hier." Aber auch bei den Sprüngen über alle drei Schanzen fühlt man sich eher wie ein Sackhüpfer als wie ein Adler. Naja, wird schon noch kommen, das Über- den-Wolken-Feeling. Jetzt erst mal Mittagessen, und Kompromisse macht da außer dem verdächtig schmächtigen Malysz-Typ keiner mehr. War gar nicht so schlimm, das mit dem Springen.

Die Gastgeber im Hotel Schwarz, dem Nr.1-Ultra-Inclusive-Wellness- Resort, halten einen bei Laune: Säure-Basen-Balancer am Frühstücksbuffet, Cleopatra-Schönheitsbad, Bindegewebsmassage, Ohrkerzenbehandlung, Acne-Control- Set oder Bodystyling, Faltenkorrektur, Lidstraffung, Nasenplastik. War die Dame mit dem Nasenverband doch keine gestürzte Skispringerin! Die Adler-Truppe feiert die ersten Weiten jedenfalls beim Hüttenabend, der noch bis in die ersten Übungen am nächsten Morgen nachwirkt: die Abfahrtshocke! Nie war sie so schwindlig wie heute.

Dabei wird es jetzt ernst: Wir schlüpfen in die Springer-Kluft. Die Schuhe sind okay, aber die Anzüge! Farben, so rosalilaknatschbunt wie zu schlimmsten 80er-Zeiten. Und die Größe! Franz hat die Anzüge seiner Schüler mitgebracht: zarte Knaben der Marke Hungerhaken. Jungs mit Hackl-Schorsch- Staturen sehen darin aus wie bunte Würste. Franz hat's eilig, es soll ja noch einen Wettkampf geben. Helm auf, die 2,50 Meter langen Sprungski an die Füße - und erst einmal wieder Trockenübungen: aus der Hocke den Chef anspringen - ein Spaß, für uns zumindest.

Irgendwann ist alles geübt und gesagt, es geht in die Schneise zu den Schanzen. Eine kleine und eine große hat Franz gebaut, und nun läuft alles wie von selbst. Zuerst auf der kleinen mit wenig Anlauf, dann mit mehr, hoch zur großen, wenig Anlauf, dann mehr. Komischerweise kommen keine Warnmeldungen aus dem Stirnhirn, Abteilung Impulskontrolle: Spinnst du? Nicht da runter! Funkstille, einfach weiterspringen. Mit jedem Hüpfer wächst Sicherheit und Zutrauen, wackelt es bei der Landung mit den störrischen Latten immer weniger, entwickelt sich allmählich so etwas wie ein Sprung. Auch wenn Blut fließt: Michael aus der Sektion Schwaben hat bei einer unkonventionellen Landung trotz Helm eine Schürfwunde an der Stirn abbekommen. Egal, Skispringer sind harte Kerle. Skispringerinnen aber auch. Kathrin und Tanja, Sektion Oberbayern, stürzen sich hemmungslos-lemmingsmäßig hinab - von wegen Männerdomäne!

Ein weiterer Dämpfer für die Herren bahnt sich beim Gastspiel der Skiflugweltrekordlerin Eva Ganster an. 167Meter ist die junge Frau schon gesprungen. Sie soll bei unserem Wettkampf den Sprungstil benoten. Franz verteilt Startnummern und es geht los, das erste Springen am Holzeisbichl-Lift. Der Jux ist erst einmal vorbei, Ehrgeiz hat seinen Platz eingenommen. Mist, prompt den Absprung verpasst, das kostet Weite. Diskussionen mit dem Weitenrichter. "Ach komm, das waren doch mehr als achteinhalb Meter!" Der Mann ist aber Österreicher, genau wie Konkurrent Dominic, die Sportskanone aus Wien. "Ziiiiiiieh!" - neun Meter sollen das gewesen sein? Naja, die halten zusammen, nix zu machen.

Jetzt geht die Weltrekordlerin in die Spur. Und? Neun Meter, mehr geht wohl nicht. "Überm K-Punkt", meint Franz. Mittlerweile starten wir von ganz oben, fast 50Meter Anlauf. Auf "gut 40Sachen" schätzt Franz unsere Geschwindigkeit. Das Stirnhirn meldet: "Obacht! Deine Endorphine!" Jaja, ist gut, ich pass schon auf. Der Wettkampf ist vorbei, aber ans Aufhören denkt keiner. Auch unser Hamburger kann's nicht lassen, schafft immerhin viereinhalb Meter. Weltrekord-Eva wundert sich: "Ich sag' euch, der geht nochmal rauf, der springt nochmal. Wie die kleinen Kinder!" Auch Franz ist ernsthaft ergriffen: "Das hätt' ich mir nie träumen lassen, dass ihr von ganz da oben runter fahrt. Ich bin fast ein bisschen stolz, und das bin ich selten." Nach der Siegerehrung (Dominic, Sektion Österreich, hat gewonnen) kommt's dann raus: Franz, unser Chef, seit 20Jahren Sprungtrainer, ist selbst nie gesprungen. "Nur einmal", sagt er beiläufig. "Und? Wie weit?" Er winkt ab: "Ach, nur 60 Meter."

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