Reisebuch:Vertraute Fremde

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Nikita Afanasjew, der in Deutschland aufgewachsen ist, erkundet sein Geburtsland Russland. Dabei ist es ihm wichtig, das Land nicht zu definieren, sondern es besser zu verstehen. Das ist ein kluger Ansatz.

Von Stefan Fischer

Nikita Afanasjew würde sich in letzter Konsequenz wohl immer für Deutschland entscheiden. Dennoch hat der in Russland geborene deutsche Journalist in Debatten mit Deutschen sein Geburtsland immer wieder verteidigt - "weil mir das westliche Dominanzstreben als zu ausgeprägt erscheint, die russische Position als zu wenig verstanden".

Nur: Versteht er sie selbst, die russische Position? Unentwegt streitet sich der Mittdreißiger Afanasjew mit seinem Vater, der einmal regimekritisch war und nun, da er nach Deutschland ausgewandert ist und dort nicht Fuß fassen konnte, sich in einen russischen Patrioten verwandelt hat. "Du bist voll von westlicher Propaganda", urteilt der Vater über seinen Sohn. Der hat sich schlussendlich im Sommer vor zwei Jahren aufgemacht, um selbst herauszufinden, "was aus dem Land geworden ist, das einmal meine Heimat war".

Der Bericht über diese Reise trägt den Titel "König, Krim & Kasatschok", das ist aber das einzige Dämliche an diesem Buch. Klug ist vor allem, dass Nikita Afanasjew Russland nicht definieren, sondern besser verstehen möchte. Entsprechend vorsichtig ist er in seinen Urteilen. Vor allem beobachtet er, lässt Widersprüche gelten, hinterfragt sehr genau, inwiefern einzelne Begebenheiten für das große Ganze stehen. Und er erzählt sehr ausführlich, woher er kommt, welchen Einflüssen er selbst ausgesetzt ist. Er kann, das stellt er klar, kein neutraler Beobachter sein. Seine Leser sollen selbst entscheiden können, was von ihm und seinen Einschätzungen zu halten ist.

Während der Reise hat Afanasjew regelmäßig mit seinem Vater im Ruhrgebiet telefoniert. Der mosert am Ende, sein Sohn habe seine Einstellung zu Russland schließlich ja doch nicht geändert. Das stimmt, es stand auch nicht zu erwarten. Und doch ist es nicht so, dass Nikita Afanasjew unentwegt bestätigt worden ist in dem, was er über Russland zu wissen glaubte. Es gibt, das ist eine der wesentlichen Erkenntnisse, eine große Freiheit - es ist jedoch eine Freiheit vom Staat und nicht wie im Westen eine Freiheit, die der Staat ermöglicht. Je weiter in den Osten Afanasjew reist, desto häufiger trifft er auf Menschen, die ihr Ding machen und dabei in Ruhe gelassen werden. In diesem riesigen Staat kann die Zentralregierung nicht alles kontrollieren. In Wladiwostok etwa begegnet Afanasjew einer jungen Frau, die um der Freiheit willen nach Russland zurückgekehrt ist. Sie hatte in Japan gearbeitet, also im "Westen", das dortige Korsett aus Regeln und Fremdbestimmung jedoch als bedrückend empfunden. Eine zweite, für den Leser womöglich überraschende Erkenntnis: Russland orientiert sich sehr am Westen, auch wenn es ihn offiziell ablehnt.

In gewisser Weise nimmt Afanasjew Russland in Schutz: nicht vor sich selbst, sondern vor den vorschnellen Urteilen vieler aus dem Westen, die Russland mit einem Gefühl der Überlegenheit begegnen. Er öffnet durch seine aufrichtige Neugier den Blick für die russische Perspektive. Ohne sie sich zu eigen zu machen. Er versteht - und seine Leser mit ihm - klarer, warum dieses Land so ist, wie es ist. Ein Teil davon möchte Nikita Afanasjew nicht sein.

Nikita Afanasjew : König, Krim & Kasatschok. Auf der Suche nach dem Russland meines Vaters. Btb Verlag, München 2018. 256 Seiten, 16 Euro. E-Book 12,99 Euro.

© SZ vom 07.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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