Reisebuch:Nordisches Dschungelbuch

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Jeden Monat eine kleine Flucht: Mit Mikroexpeditionen in den Wald hinter den Grenzen seiner Heimatstadt Oslo will Torbjørn Ekelund sein Verhältnis zu Büroalltag, sozialen Verpflichtungen und Natur hinterfragen.

Von Julia Höftberger

Torbjørn Ekelund ist eben auch nur ein Mensch. Obwohl er als Kind davon träumte, ein harter, wortkarger Forschungsreisender zu werden, ließen Brotjob und Familie ihn schlussendlich auf den völligen Bruch mit der Zivilisation verzichten. Ekelund reiste in jungen Jahren nicht viel, doch seine eindringlichsten Erinnerungen sind jene an Naturerlebnisse. Im ständigen Hin und Her zwischen Büro, Wohnzimmer und familiären Verpflichtungen wuchs die Frustration über sein fremdbestimmtes Leben und damit die Sehnsucht nach der Stille des Waldes und den Besonderheiten der Natur.

"Verursacht Kultur Stress, bietet Natur Ruhe. Macht Kultur die Menschen einsam, werden sie durch die Natur befreit." Besonders stressten ihn die vielen Verabredungen und Termine, die er als Journalist und Leiter eines kleinen Verlages hatte. Er beschloss deshalb, von Januar bis Dezember einmal pro Monat in der Nordmarka, dem direkt an der Stadtgrenze Oslos gelegenen Waldgebiet, zu übernachten. Obwohl diese Mikroexpeditionen ihn nicht in das Dickicht abgelegener Urwälder führen oder gar auf den von ihm oft erträumten Everest, sondern bloß in das Moos und die Lichtungen des Waldes vor seiner Stadt, stellt sich sein Vorhaben als ein abenteuerliches heraus. Er begibt sich, nur mit Schlafsack, Zelt und Abendlektüre ausgestattet, zwischen die Fichten und Birken fernab der ausgetretenen Wanderwege.

Die Natur belohnt ihn mit den Spuren torkelnder Elche im Schnee, dem geisterhaften Flug der Kraniche, dem Farbenspiel des Heidekrauts, dem Balztanz der Birkhähne, einem in der Nacht zu einem "Meer aus Knäckebrot" gefrorenen Moor. Auch verlangt sie ihm einiges ab - so weiß er nach dem Erwachen im Raureif die Autoheizung mehr denn je zu schätzen.

Ekelunds Ziel ist die Ziellosigkeit, und so kommt ihm das in weiten Teilen Skandinaviens geltende Jedermannsrecht entgegen. Es erlaubt, sich fast überall frei in der Natur zu bewegen, zu übernachten und Lagerfeuer zu entzünden. An manchem Sommermorgen zieht sich der begeisterte Fliegenfischer eine Forelle aus dem See. Meist nimmt er seine Mahlzeiten nur in Gegenwart der Bäume ein, die Einsamkeit ist ihm aber kein ehernes Prinzip: So begleiten ihn mal sein kleiner Sohn, mal zwei befreundete Fliegenfischer oder ein Fotograf.

Im Wald kommt er zu der Einsicht, dass die Welt sich auch ohne ihn dreht

In einer wachen, unprätentiösen Sprache schreibt Ekelund vom Wald als "Allheilmittel" gegen Blindheit und Gleichgültigkeit der Welt gegenüber, gegen die der Routine manchmal entwachsende Sinnlosigkeit. Ab und zu verfällt er in einen etwas pathetischen Tonfall, wenn er etwa den Herbst als Dreigestirn aus Melancholie, Nostalgie und Wehmut beschreibt. Er verzichtet aber auf übermäßige Esoterik oder aufgesetztes Philosophieren. Und doch lässt er den Leser durch Zitate an seiner Zeltlektüre teilhaben: Bukowski, Aristoteles oder Freud helfen ihm bei der Rechtfertigung, sich für die Natur und das Alleinsein statt für gesellschaftliche Verpflichtungen zu entscheiden. Seine lose über das Buch verstreuten Fotografien des Waldes zu jeder Jahreszeit sind wie Bilder eines nordischen Dschungelbuchs, die in starkem Kontrast zu der entzauberten, urbanen Welt stehen, in der wir uns bewegen.

Ekelund, Jahrgang 1971, braucht die Natur als Korrektiv für sein Großstadtleben. Erst im Wald erkenne man die eigene Irrelevanz, komme man zu der tröstlichen Einsicht, dass die Welt sich von der individuellen Leistung unabhängig drehe. Ekelund hat die Größe, sich diese eigene Kleinheit einzugestehen. Seine Worte wecken Mut und Muße, auch die "Tipps für die Wildnis von einem Büromenschen" im letzten Kapitel inspirieren zu einer Nachahmungstat. So warnt er davor, der Versuchung eines zu voll gepackten Rucksacks zu erliegen. Oder aber er empfiehlt, im Frühling bloß nicht die schönste Tageszeit am frühen Morgen zu verschlafen, spätestens um fünf Uhr solle man da aufstehen, um das Erwachen der Natur zu erleben. Auch der Rat, abends immer eine Pinkelflasche mit ins Zelt zu nehmen, um bei nächtlichen "Toilettengängen" nicht unnötig auszukühlen, mag Lesern und Waldabenteurern in spe einige Unannehmlichkeiten ersparen.

So minimalistisch Ekelunds kleine Ausreißer auch ausfallen, so banal, fast artifiziell diese Form der auf eine Nacht komprimierten Weltflucht anmutet, so lohnt es sich doch, darüber nachzudenken. Und vielleicht irgendwann einmal Ekelunds simpler Aufforderung zu folgen: "Überall auf der Welt gibt es Wälder. Man muss einfach nur hineingehen."

Torbjørn Ekelund: Im Wald. Kleine Fluchten für das ganze Jahr. Piper Verlag, München/Berlin 2016. 272 Seiten, 18 Euro

© SZ vom 01.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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