Reisebuch:In der Tube

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Wolfgang Strassl porträtiert London, indem er Fahrgäste in der U-Bahn fotografiert. Deren Gesichter muss man sich dazudenken.

Von Stefan Fischer

Zeitungen gibt es nach wie vor. Auch Bücher. Plastiktüten hingegen kaum noch. Coffee-to-go- und Smoothie-Becher werden ebenfalls seltener. Oder ist das, was der Fotograf Wolfgang Strassl in seinem Band "Underground Portraits" zeigt, gar nicht repräsentativ?

Das kann man sich eigentlich nicht vorstellen. Strassl hat die Fahrgäste der Jubilee Line fotografiert, jener Londoner Tube-Strecke, die von dem nordwestlichen Vorort Stanmore über, so Zelda Cheatle in ihrem Vorwort, die "glamouröse Bond Street, die geschäftige Baker Street, das politische Westminster und die chaotische Waterloo Station" bis hinaus nach Stratford ins East End führt. Pendler benutzen die U-Bahn-Linie, sie haben ganz unterschiedliche Ziele, kommen aus diversen Milieus. Insofern sitzt die ganze Stadtgesellschaft in der Tube, jedenfalls jener Teil, der öffentliche Verkehrsmittel benutzt.

Dass man auf die Handtaschen und die Hände, auf die Schuhe und die Jacken schaut, liegt an einem einfachen Trick: Strassl zeigt die Gesichter der Passagiere nicht. Die Menschen sind nicht identifizierbar dadurch, ihre Privatsphäre bleibt gewahrt - wahrscheinlich, das geht aus dem Buch nicht hervor, sind sie sich nicht einmal bewusst gewesen, dass Wolfgang Strassl sie fotografiert hat. Weshalb sie auch nicht posieren vor seiner Kamera, sondern sich so geben, wie sie es eben tun in dieser für sie alltäglichen Situation.

Den Betrachtern der Fotografien erlaubt dies, die Personen genauer zu beobachten, ohne dies verstohlen tun zu müssen oder sich des Begaffens schuldig zu machen. Von Voyeurismus kann ohnehin kaum die Rede sein, da sich die Fotografierten in der Öffentlichkeit bewegen. Die Porträts erlauben zweierlei: die Beobachtung von Auffälligkeiten. Und das Befüllen der Leerstellen.

Tatsächlich falten viele Menschen, die kein Smartphone, keine Arbeitsunterlagen oder keine Tasche halten, ihre Hände. Frauen schlagen ihre Beine übereinander, selbst wenn sie Hosen tragen; es sei denn, sie haben etwas auf ihrem Schoß liegen. Männer, so scheint es, sitzen grundsätzlich breitbeinig da. Schmuck ist wenig zu sehen. Krawatten sind out.

Geschlecht, Alter, Herkunft, der soziale Status und die aktuelle Laune - all das muss man indessen selbst zuordnen, mitunter auch assoziieren. Wir sind frei, so Zelda Cheatle, die Geschichte eines jeden selbst festzulegen. Nicht zuletzt wirken die Fotografien wie Spiegel - denn wenn wir nicht in Gesichter blicken, fallen uns viel eher Ähnlichkeiten mit uns selbst auf. Und so genügen Wolfgang Strassl tatsächlich wenige Dutzend Fotografien, um eine ganze Stadt zu porträtieren - und über London hinauszuweisen. Sehr viel anders wären die Bilder in Berlin oder Paris mutmaßlich nicht ausgefallen.

Wolfgang Strassl : Underground Portraits. Kerber Verlag, Bielefeld 2019. 96 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 06.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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