Reisebuch:Der Umweg ist das Ziel

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Tom Chesshyre reist in Bummelzügen durch Europa. Es geht ihm dabei weniger um die Sehenswürdigkeiten, die ihm etwas erzählen könnten über diesen Kontinent. Wichtiger sind dem Autor die Menschen, die er auf seiner ungewöhnlichen Reise trifft.

Von Stefan Fischer

Es geht Tom Chesshyre ums Unterwegssein, nicht ums Ankommen. Insofern hat er auf seiner Reise durch Europa so viele langsame Züge wie möglich genommen. Die erste kuriose Anekdote darüber kann er berichten, da hat er seine Heimat Großbritannien noch gar nicht verlassen, obschon er lediglich vom Londoner Außenbezirk Mortlake bis nach Dover an der Kanalküste fährt: Kurz vor dem Ziel sagt ein Schaffner durch, der Zug komme fünf Minuten zu früh an. "Mein Bummelzug", so Chesshyre, "ist offensichtlich zu schnell gefahren."

In Frankreich fährt dann aber erst einmal gar nichts, die Bahn wird bestreikt. Tom Chesshyre kommt aus Calais nur fort mit der belgischen Bahn - die erste Änderung seiner Pläne. Besonders konkret sind die allerdings ohnehin nicht. Der britische Autor, Jahrgang 1971, der zwei Jahrzehnte als Reiseschriftsteller für die Times gearbeitet hat, möchte nach Venedig, jedoch nicht auf dem direkten Weg. Der Verdruss über den Brexit lockt ihn aufs Festland; der Wunsch, dieses Europa, von dem sich seine Heimat gerade abwendet, in vielen seiner Facetten zu erleben.

Chesshyre hat keine touristische Agenda. Dennoch streift er durch die Städte, in denen er Quartier macht - stets steigt er in Hotels oder Hostels in unmittelbarer Bahnhofsnähe ab. In Budapest wird der Stadtspaziergang in Ansätzen zu einem touristischen Programm, in Brod und Slavonski Brod, der Doppelstadt auf beiden Seiten der bosnisch-kroatischen Grenze, wird er zu einer Lektion in gelebter Geschichte. "Es ist vielleicht kein typisches Touristenziel, aber es ist interessant, in Brod zu sein", schreibt Tom Chesshyre in seinem Reisebuch "Slow Train": "Um die Folgen eines Krieges, der in jüngster Zeit in Europa stattgefunden hat, selbst aus nächster Nähe zu sehen."

Diese Folgen sind durchaus noch zu sehen und vor allem zu hören im Alltag: Die Menschen in Bosnien, Serbien, Kroatien sind geprägt von den Kriegen, die zur Auflösung Jugoslawiens geführt haben. Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit bestimmen noch heute ihre Haltung zu den einstigen Kriegsgegnern und zu Westeuropa. Wobei natürlich nicht jeder gleich denkt. Der Zugreisende plaudert mit den Leuten, in Cafés, auf der Straße, in den Zügen. Er fragt sich durch, statt sein Smartphone zu benutzen. Die Leute reden oftmals gerne. Chesshyre hört ihnen zu. Er ist privilegiert, kann sich in Europa frei bewegen.

Der Bummelzugreisende weiß um seine Rolle, und er weiß, wo er unterwegs ist. In Calais sucht er nach Flüchtlingen, die nach wie vor in der Stadt ausharren, um nach Großbritannien zu kommen. Er befährt Strecken, auf denen im Sommer 2015 die vielen Flüchtlinge unterwegs waren. Er verlässt die Europäische Union, fährt bis in die Ukraine, macht einen Abstecher nach Transnistrien, kehrt über den Balkan zurück in die EU.

Es sind nicht die Sehenswürdigkeiten, die ihm etwas erzählen über diesen Kontinent, es sind die Menschen, die er trifft. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien teilen. Da sind die Skeptischen, die wenig wissen wollen von der Fremde und den Fremden, die für sich bleiben. Und daneben die Aufgeschlossenen, Neugierigen. In der Ukraine trifft Chesshyre eine Alleinreisende, die immer wieder grenzwertige Erfahrungen mit Männern macht. Aber man müsse den Menschen vertrauen, wenn man unterwegs sei, sagt sie. Chesshyre hält es ebenso, davon sind wechselseitig auch viele der Begegnungen geprägt.

Tom Chesshyre : Slow Train. Eine Liebeserklärung an Europa in 52 Stationen. Aus dem Englischen von Astrid Gravert. Dumont Reiseverlag, Ostfildern 2020. 334 Seiten, 14,95 Euro.

© SZ vom 16.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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