Reisebuch:Berliner Lässigkeit

Lesezeit: 2 min

Fahrräder haben das Stadtbild verändert. Das Buch "Ohne Motor" wirft einen Blick auf die Anfänge in der Hauptstadt in den legendären, koketten Zwanzigerjahren.

Von Stefan Fischer

Im Grunde ist es kurios, dass es mehr als hundert Jahre gedauert hat, bis die Stadtplaner die Fahrradfahrer nun endlich ernst nehmen. Als die Räder aufgekommen sind, Ende des 19. Jahrhunderts, wurde in vielen Städten noch mit Fahrverboten reagiert: zu gefährlich, so die Meinung der Obrigkeit - vor allem für alle übrigen Verkehrsteilnehmer. Diese Diskussion ist so alt, wie es das Fahrrad ist. Und dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, war ohnehin die autofreundliche Stadt das Maß der Dinge. Radfahrer waren immer im Weg, und erst langsam beginnt man in Deutschland, eine Infrastruktur in den Städten zu schaffen, die dem Verkehrsaufkommen der Radler wenigstens einigermaßen entspricht.

Boris von Brauchitsch geht zurück an die Anfänge des Fahrradbooms in seinem Band "Ohne Motor". Um zu zeigen, dass Fahrräder eben nicht erst schick sind, seit sie angeblich in unserer Gegenwart vom schlichten Transportmittel zum Ausdruck eines alternativ-urbanen Lebensstils geworden sind. Sie waren es - jedenfalls in Berlin - bereits in den 1920er-Jahren. Brauchitsch zeigt Alltagsfotografien, viele Sportveranstaltungen sind darauf zu sehen, etwa Straßen- und Sechstagerennen. Es gab früher in Berlin sogar ein Radrennen der Zeitungsfahrer. Was der Band aber auch zeigt ist, wie radikal die Räder die Mobilität in der Stadt verändert haben: Man sieht, dass die Idee von Lastenrädern nicht erst aufgekommen ist, seit Cargo-Bikes zum Statussymbol der Gutverdienenden geworden sind. Fahrräder haben früh schon das Freizeitverhalten verändert - und die Möglichkeit, eine Stadt zu erkunden, sei es als Bewohner oder als Besucher.

Die legendären, koketten Zwanzigerjahre in Berlin, sie haben auch in der neuen Fahrradkultur ihren Ausdruck gefunden - einen Ausdruck der Ungezwungenheit, der Offenheit, auch des öffentlichen Schauspiels. Die drei Schülerinnen, die da genießerisch an einem Eis schlecken, hätten sich ohne ihre Räder auf der Straße niemals derart in Positur stellen können. Imponiergehabe ist immer wieder zu beobachten auf den Fotografien, das gilt für eine ganze Reihe von Akrobaten, aber auch für eine Menge Jedermänner und -frauen, für die die Straße durch das Rad ein öffentlicherer Ort wird, als er es zuvor gewesen ist, und das Gefährt ein Instrument zum Flirten. Weil man jemanden umkreisen, weil man sich lässig dagegenlehnen kann. Die Geschichte des Fahrrads in Berlin ist auch eine der Emanzipation. Und die Straßensperrungen sind nicht lange aufrechterhalten worden. Zu mächtig war der Aufbruch in die neue Zeit. Zwischendurch hatte das Fahrrad dann ein Arme-Leute-Image. Aber nicht zuletzt in den Feinstaub- und Stickoxid-Diskussionen unserer Tage wendet sich das Blatt wieder.

Boris von Brauchitsch (Hrsg.): Ohne Motor. Das Fahrrad im alten Berlin. Edition Braus, Berlin 2017. 128 Seiten, 24,95 Euro.

© SZ vom 10.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: