New York:Auf die Schnelle

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48 Stunden unter Hochdruck in der Stadt, die niemals schläft: Mit dem Taxi durch New York.

Helge Sobik

Saeed Mokatir hupt zusammen genommen gut drei, bremst sechs und tritt im Schnitt nur zwei Stunden am Tag aufs Gaspedal, manches davon zeitgleich. Meistens steht der Mann mit dem orangefarbenen Turban im Stau.

New York
:"Big Apple"

Fluchtpunkt, Moloch, Faszination - die Stadt, die niemals schläft und ihre vielen Gesichter.

Zwischendurch trippelt er nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad, zuckt mit den Pupillen von Spiegel zu Spiegel, wechselt die Spur in der Hoffnung, es möge zwei Meter Landgewinn bringen, einen kleinen Vorsprung vor all den anderen.

Der Mann ist im Stress. Jeden Tag. Er ist Taxifahrer in New York. Und er versteht nicht, warum so ein Stau für manche seiner ausländischen Fahrgäste zum Hochgefühl gehört. Er ahnt nicht, dass sie gerade diese Stadt im Taxi unmittelbarer spüren als überall sonst - weil sie plötzlich mitten im Lebensrhythmus der Metropole stecken, dazugehören, nur durch eine gelb lackierte Blechwand von der Welt da draußen getrennt sind.

Immer mehr Besucher schauen nur kurz vorbei - aus Europa, aus Japan, aus Südamerika: New York in 48 Stunden. Ein paar Sehenswürdigkeiten, unendlich viele Eindrücke, zwischendurch immer wieder Taxifahren, ein paar Erinnerungsstücke in Plastiktüten erbeuten, danach hervorragend essen, vielleicht ein Musical erleben, wieder Taxifahren - und kurz darauf stundenlang im Flugzeug sitzen und zurück jetten.

Keine Langstrecke ist unter den Airlines so umkämpft, auf keiner anderen Route ist das Netz so dicht geknüpft wie aus aller Welt nach New York. Das hält die Ticketpreise im Keller - und macht Kurztrips möglich. Und als ob sich alle verbündet hätten, fördern Hotels diesen Trend. Denn in keiner anderen amerikanischen Stadt sind die Zimmer dem schwachen Dollar zum Trotz so teuer - auch das ist ein Grund, nur kurz zu bleiben und sich zwischenzeitlich der Pulsfrequenz New Yorks anzupassen.

Das wahnsinnige Tempo dieser Stadt provoziert zum Kurzbesuch. Wie lange sollte man sonst auch bleiben? Eine Woche? Das ist wie zwei Tage. Einen Monat? Das reicht nicht, um diesen Moloch halbwegs zu erkunden. Ein Jahr? Davon ist die Einwanderungsbehörde nicht begeistert.

New York erschöpfend zu entdecken - das funktioniert nicht. Zwei Tage sind gar nicht schlecht, zweimal volles Programm, zehn unterschiedliche Taxis am Tag, Kurzbekanntschaften mit schwatzhaften Fahrern und mit mürrischen Schweigern, mit Turbanträgern oder Kahlgeschorenen, Rastas oder älteren Herren mit Schlips am Steuer.

Immer wieder von A nach B und vor lauter babylonischer Sprachverwirrung manchmal aus purem Zufall nach C. Ein Nachteil ist das selten. New York bietet die Auswahl aus tausenderlei Ausflugsmöglichkeiten, Millionen von Kombinationen, ganz nach eigenen Vorlieben, nach Wetter, Öffnungszeiten, persönlichem Budget.

Nachdenken, sacken lassen, Versäumtes bedauern, Erholung - dafür ist hinterher Zeit.

Und wäre diese Stadt ein Organismus, man könnte meinen, New York atme Taxis ein und aus. Oder sie schwemmten durch die Straßen von Manhattan wie Blutkörperchen durch die Aorta. In endlosen Strömen werden sie von frühmorgens bis spätnachts über die Williamsburg Bridge und durch den Queens Midtown Tunnel gepumpt, sortieren sich an den Ampeln neu, umfließen Engpässe, rauschen an Gabelungen in alle Abzweigungen hinein.

"A city that doesn't sleep", hat Frank Sinatra gesungen. Und ließe sich Wahrheit steigern - der Song wäre nie wahrer als jetzt: Manhattan ist das Herz dieser Stadt, vielleicht der Erde. Schnell, hektisch, nicht zur Ruhe zu bringen, in immerwährender Aktivität gefangen. Und multikulturell, international wie kein anderer Flecken auf dem Erdball. Eine Synthese aus allem.

Saeed Mokatir mit seinem Turban ist so sehr Teil dieser Hektik wie seine weit mehr als zehntausend Zunftkollegen. Sie pendeln zwischen Flughäfen und Downtown Manhattan, immerwährend zwischen Hudson und East River. Sie sind es, die das Tempo dieser Stadt ausmachen.

Die Gesichter, welche Leute wie Saeed Mokatir aus Indien im Rückspiegel sehen, die Menschen in seinem Wagen - sie wechseln im Minuten- , manchmal im Halbstundentakt. Zwei Dollar fünfzig Grundgebühr kassiert jeder Taxifahrer von ihnen, dazu vierzig Cent pro Fünftelmeile - tageszeitabhängige Zuschläge nicht mitgerechnet.

Die Augen dieser Menschen auf der Rückbank seines Taxis blicken Saeed oder einem seiner vielen Kollegen über die Schulter, schauen über das abgewetzte rote Kunstleder der Sitzbezüge durch die Scheibe, beachten Namenschild mit Passfoto und Lizenznummer fast nie.

Für sie gibt es Wichtigeres zu sehen: auf der Fahrt vom Flughafen JFK draußen in Brooklyn hinein ins pulsierende Zentrum, über den East River hinüber ins Hotel nach Manhattan, vorbei an all den Bildern, die sie aus dem Kino kennen - oder vom letzten Besuch. Reize sind im Übermaß vorhanden - abschalten ausgeschlossen.

Zehn Hoteltipps für New York in der interaktiven Karte

An Ort und Stelle geht es in die Vollen: Erst Dachgärten aus der King Kong-Perspektive von der Spitze des Empire State Buildings aus zählen, auf die mit gelben Punkten angefüllten Adern herabblicken. Dann Galerienbummel in Soho, kurz darauf im Central Park mit einer Pferdekutsche durchs Grün oder Weiß ganz nach Jahreszeit und Witterung schaukeln, anschließend im eleganten Kaufhaus Bergdorf Goodman bei einem Latte Macchiato kurz zur Ruhe kommen, gleich danach den Magnetstreifen der Kreditkarte zum Glühen bringen.

Und abends vielleicht Kurt Masur am Pult der Avery Fisher Hall erleben, während Saeed Mokatir längst irgendwo zu Hause in der Bronx schläft, seine Augenlider noch flirren und der rechte Fuß aus Gewohnheit zuckt.

Sechs, sieben Arme recken sich am nächsten Vormittag fast zeitgleich am Kantstein vor den Schaufenstern des Juweliers "Tiffany" an der Fifth Avenue in die Höhe: Taxis anhalten. Die gelben Klapperkisten drängeln sich zwischen die wartenden Stretch-Limousinen der eigentlichen Zielkundschaft, rasen mit den neuen Passagieren davon.

Nächstes Ziel? Das Museum of Modern Art vielleicht: ein Blick auf Picassos kubistisches Schlüsselwerk "Les Demoiselles d'Avignon", einer auf Dalís kleinformatigen Klassiker mit der zerfließenden Uhr, der davoneilenden Zeit. Im Riesenkaufhaus Bloomingdale's durch die Drehtür, danach einmal schnell schauen, wo John Lennon gewohnt hat, dann bei High Tea in der Lobby-Lounge des Four Seasons oder bei einer Miso-Suppe in Chinatown kurz zur Ruhe kommen.

Und anschließend? Wieder ein Taxi anhalten, hinunter zu den Bootsanlegern, gut zwei Stunden bei einer Yacht-Cruise um die Spitze von Manhattan Lady Liberty aus nächster Nähe "Guten Abend" sagen und nebenbei an Bord nett speisen - bis die Hälfte der Gäste plötzlich das Besteck fallen lässt und zur Tanzfläche eilt. Es klingt, als sänge der Bord-Entertainer nach einer Melodie, die man schon mal gehört hat. Endlich tropfen seine Worte etwas deutlicher aus den Boxen: "...the city, that doesn't sleep..."

Saeed Mokatir kann diesen Song nicht mehr hören. Und jeden anderen ebenso wenig. Musik im Auto stresst ihn. Sein Radio schweigt. Aber in der U-Bahn auf dem Nachhauseweg entspannt er sich, hat endlich die Stöpsel des MP3-Players im Ohr, lauscht indischen Schlagern.

Er kommt in den quietschenden Zügen tief unter den Kellern der Wolkenkratzer zur Ruhe, wenn er nicht mehr hupen, nicht mehr ins Geschehen eingreifen kann und auf dem Nachhauseweg ist. Der pakistanische Fahrer der Nachtschicht hat gerade das Yellow Cab an der Ecke Fifth Avenue/Central Park West von ihm übernommen, wird in den nächsten Stunden Passagiere am Yacht-Terminal aufsammeln, zum Flughafen rasen. Vor Tiffany's auf Handzeichen später Passanten reagieren, vor dem MoMA, wird von den Hotels aus Richtung JFK düsen, neue persönliche Bestzeiten aufstellen - oder das Gegenteil davon. Je nach Verkehrslage, je nach derzeitiger Durchblutung dieser Stadt.

Das gelbe Blutkörperchen wird da sein, so lange diese Stadt lebt. Die Passagiere werden immer schneller wechseln, die Fahrer alle acht, neun, zehn Stunden. Aber alle kommen sie wieder. Die Fahrer zum nächsten Schichtbeginn, die Fremden, wenn wieder genug Geld fürs nächste Flugticket zusammengespart ist und die Sehnsucht siegt.

Weil dieser Rhythmus süchtig macht, diese Dynamik - und dieses subtile Gefühl, ein winziger Baustein davon zu sein und mitgeschwemmt zu werden. Und ein kleines bisschen mit Schuld zu sein - an all dem Tempo. Und an all dem Durcheinander.

© SZ vom 28.2.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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