Neulich in...:Chaux-lès-Passavant

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Wie vermarktet man eine Eisgrotte, in der es wegen des Klimawandels kein bisschen Eis mehr gibt? Ein Lehrstück aus Chaux-lès-Passavant in Frankreich.

Von Georg Etscheit

Alle Hoffnung ruht auf Rovier: ein schemenhaft sich an der Höhlenwand abzeichnendes Wesen, auf das Monsieur Roland mit seinem Laserpointer deutet. "Hier die Wirbelsäule, der Kopf, die Füße", erläutert er seinen Zuhörern, einer Handvoll Touristen, die sich zum Besuch der Grotte de la Glacière von Chaux-lès-Passavant im französischen Jura entschlossen haben. Aber ist Rovier wirklich ein kleiner Saurier? Viel zu sehen ist nicht. Es könnte auch eine Sinnestäuschung sein.

So wie auch die Sache mit dem Eis. Die Grotte de la Glacière ist, wie der Name sagt, eine Eisgrotte. Eine von zwei oberirdischen Karsthöhlen in Europa, in denen sich dank spezifischer mikroklimatischer und geomorphologischer Verhältnisse ganzjährig Eis hält. So zu lesen im Guide Vert von Michelin, Ausgabe 2015. Man finde sie mitten im Wald auf einer Höhe von 525 Metern. Das ganze Jahr über halte sich kalte Luft am Boden der 66 Meter tiefen Höhle, sodass Wasser, das vor allem während der Schneeschmelze im Frühjahr von oben einsickere, zu atemberaubenden Formationen gefriere, die auch im Sommer nicht abtauten. Ein Naturwunder, das man keinesfalls versäumen sollte.

Doch wo ist das Eis? Ganz unten auf dem Grund der Höhle sieht man im spärlichen Tageslicht nur ein paar verkohlte Holzreste. Das verrostete Thermometer zeigt drei, vier Grad über Null. Die glitschige Treppe, die zur tiefsten Stelle der Grotte führt, ist abgesperrt. Louis Michel Roland rückt nur zögerlich mit der Wahrheit heraus: Das Eis existiere nicht mehr. Es sei in den vergangenen Jahren immer weniger geworden. 2013 habe dann eine große Überschwemmung in der Höhle noch die letzten Reste schmelzen lasse. Das ewige Eis, das über Jahrhunderte von den Menschen dieser Gegend abgebaut wurde, um Bier zu kühlen und Wunden kranker Menschen im Spital - aus, vorbei, perdu, passé. Die Eintrittskarten kosten trotzdem noch immer sechs Euro pro Person. Man fühlt sich ein wenig geneppt.

Überall in den Alpen tauen die Gletscher im Rekordtempo und mit ihnen verschwinden touristische Attraktionen. Mancherorts versuchen die Touristiker, aus der Not eine Tugend zu machen, eröffnen Gletscherwanderwege, die den Klimawandel erklären und den Rückgang der Eismassen dokumentieren sollen. Monsieur Roland hat das Eis augenscheinlich abgeschrieben. Er preist den Ort jetzt als geologische Sehenswürdigkeit an. Etwas nuschelnd erläutert unser Führer die Entstehung des Juragebirges, deutet mit seinem Laser mal auf eine versteinerte Muschel, mal auf einen Ammoniten. Und auf Rovier, das neue Maskottchen der Grotte. Seit Jahrzehnten führt Roland zusammen mit seinen beiden Söhnen Touristen durch die Höhle und setzt eine Tradition fort, die es seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt. Der riesige Schlund mitten im Wald ist auch ohne "ewiges" Eis sehenswert, aber er ist keine Attraktion, zu der man eine längere Fahrt auf sich nehmen würde. Nicht vergleichbar mit anderen Tropfsteinhöhlen im Jura wie den Grottes de Moidons oder jenen von Baume-les-Messieurs. Im Internet wird mit sarkastischem Unterton schon darüber spekuliert, was Monsieur Roland und seine Familie, die Hüter der verflossenen Eisgrotte, nun tun. Vielleicht, witzelt man da, werden sie ja die ersten Klimaflüchtlinge der Region Doubs?

© SZ vom 01.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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