Mitten in Paris:Thomas11000: Zum Zeitschriftentauschen bereit

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Michael Kläsgen testet den neuen Verabrede-Service der französischen Bahn und trifft dabei nur nervige Reisende.

Thomas11000 hatte ich mir als rundlichen Endvierziger mit schokoladeverschmiertem Mund vorgestellt und schon am Bahnsteig nach ihm Ausschau gehalten. Denn bei diesem neuen Internetservice der französischen Bahn hatte er "verfressen" als seine größte Schwäche und als Lieblingsspeise "Schokolade" angegeben.

Dank der SNCF kann man diese kleinen Geheimnisse über seine Mitreisenden jetzt erfahren, sich per Mail mit ihnen im Zug verabreden. Und dann über Schokohasen, Nietzsche, Zizou oder Gott und die Welt quatschen. Ohne Aufpreis.

Tolle Idee, dachte ich mir, und die Werbung so plastisch: "Meine Tochter ist eine wahre Plage. Suche gleichaltrigen Spielgefährten, um ruhige Fahrt zu garantieren!", ruft eine Zeichenfigur auf der lila Homepage. Eine andere: "Englischer Student. Tausche eine Englischstunde gegen eine Stunde Französisch."

Natürlich wollte ich auch so eine Figur sein und klickte die Gute-Laune-Variante "zap" an. "Zen" wäre für kommunikationsfeindliche Langschläfer gewesen. Zap schien die eindeutig bessere Wahl zu sein.

Veroniah. Dickköpfig, will über Esoterik reden

Plink! Wieder eine E-Mail. Koalalambda hat sich eingeschrieben! Mag keine mit Camembert-Sandwiches bewaffnete Schnarcher. Plink! Veroniah. Dickköpfig, will über Esoterik reden. Plink! Kilibibi findet Filme deutscher Existentialisten gut. Plink! Sie haben Gemeinsamkeiten mit Thomas11000: zum Zeitschriftentauschen bereit. Wollen Sie mit ihm in Kontakt treten? Ja, klar.

Vor meinem inneren Auge zeichnete sich immer deutlicher das Bild eines mit 300 km/h rasenden Ballermanns ab, und das um acht Uhr morgens.

Was für ein Spaß! Aber da, ein Hindernis. Nachrichten schicken kostet ein Euro fünfzig, plus SMS-Gebühr. Egal. "Hallo Thomas11000, wir können auch Englisch reden." (Er hatte im Steckbrief bemängelt, zu selten Englisch sprechen zu können.)

Thomas11000 antwortete nicht. Auch am Bahnsteig kein Schokomund. Und dann der Zug: außen abgewrackt, innen gerissene Polsternähte. Dafür rappelvoll, wie gewöhnlich. Meine Sitznachbarin, hager, rote abgeknabberte Fingernägel, schaute nicht einmal auf, als ich mich setzte.

Coucou! Zap? Macht nichts. Sie war in ihre Zeitschrift vertieft und hörte laut Musik. Stimmt. "Rücksichtslose Träger plärrender Kopfhörer" hatte ich vergessen, in der Rubrik "schlimmster anzunehmender Nachbar" anzugeben.

Hätte aber auch nichts genutzt. Die Sitzplätze standen mit dem Ticketkauf fest. Und um mich herum? Schweigen. Kein Nietzsche, kein Zizou. Hinter Poitiers setzte ich mich hinten in eine freie Reihe. Dort dröhnte noch lauter ein Kopfhörer.

Sonst ringsum Schweigen, drei Stunden und 15 Minuten lang. Auf der Rückfahrt wird bestimmt alles anders, mit Lolita, Venusien und Karlito. Von wegen. Wieder Schweigen.

Hinter Poitiers zückte ich den Ausdruck mit den zwölf lustigen Figuren, die sich eingetragen hatten. "Lolita?", fragte ich meine Nachbarin und deutete auf die Figur. Kichern, Kopfschütteln, Getuschel, der Zettel wanderte durchs Abteil. Dann wieder Schweigen.

In allen Waggons übrigens, egal, ob zap oder zen. Aber war es nicht das, was ich vor der SNCF-Idee auf Bahnfahrten immer so geschätzt hatte?

© SZ vom 30.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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