Kindheitserinnerungen:Arme Seelen im Urlaubsloch

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Unser liebstes Urlaubsziel hat kein Reisebüro im Angebot: Den Rückflug in die schönen Ferientage unserer Kindheit.

von Kurt Kister

Neulich war ich bei Wolfgang Thierse. Der Bundestagspräsident hatte mich in sein Büro bestellt, "eingeladen", wie er sagte. Er wollte mit mir darüber sprechen, warum ich ein paar Tage zuvor so garstig über ihn geschrieben hatte.

Es gab Obstkuchen, und Thierse leitete die Unterredung mit der Frage ein, ob ich denn bald in den Urlaub führe. Ich sagte: "Nein", und grummelte irgendetwas über Schmerzen im Knie, wenig Leute im Büro, schwieriger August.

Dann sprachen wir etwa eine drei Viertel Stunde, in der er mir unter anderem vorwarf, ich hätte Vorurteile gegenüber seiner Amtsführung, was ich ihm ausdrücklich bestätigte. Am Schluss des Gesprächs plauderten wir noch über dies und das, und dann fragte mich Thierse: "Fahren Sie jetzt in den Urlaub?" Diesmal sagte ich: "Ja", weil ich mir dachte, es ist ohnehin egal, denn im Juli erwartet jeder, und sei er der Bundestagspräsident, der einen fragt, ob man jetzt in den Urlaub fährt, dass man das auch tut.

Der Thierse zum Beispiel fährt in den Urlaub, das heißt: er ist schon im Urlaub, genau so wie der Schröder, der Fischer, die Merkel und ganz viel andere Menschen. Eigentlich sind alle im Urlaub. Und wenn sie es noch nicht sind, dann fahren sie heute oder morgen, weil jetzt auch in Bayern die Schulferien begonnen haben. Ich bin nicht im Urlaub.

Früher war ich gern im Urlaub. Als Kind. Der Urlaub fing meistens so an, dass wir am Samstag, dem ersten Ferientag, ganz früh losfuhren. Wir fuhren jedes Jahr nach Jugoslawien, zuerst in einem Ford 17M, dann in einem Audi 100 und am Schluss, da hatte ich schon Haare unter den Achseln, in einem Opel Manta Automatic, der orange war und ein schwarzes Vinyldach hatte. Wir fuhren immer dann, wenn alle fuhren.

Ich glaube, dass der Drang, dann zu fahren, wenn alle fahren, eines der wenig erforschten Charakteristika der Kriegsgeneration ist. Klar, die Leute verstopfen heute auch noch gerne an Samstagen die Autobahnen. 2004 aber gibt es deutlich mehr Autos als 1965, und damals hätte man, wäre man zum Beispiel erst am Sonntagmittag losgefahren, die schrecklichsten Staus in Österreich vermeiden können.

Mein Vater sagte immer, wir müssen früh losfahren, obwohl er wusste, dass alle anderen auch früh losfahren. Nein, obwohl ist hier falsch, denn vermutlich sind wir so früh losgefahren, weil meine Eltern in jedem Fall in diese schreckliche Schlange geraten wollten, die sich immer vor jenem Bahnhof bildete, auf dem die Österreicher die Autos in einen Zug verluden, um sie mitten durch ihr Gebirge zu transportieren.

Wenn wir da durch waren, quälten wir uns über den Wurzenpass. Links und rechts standen Autos mit qualmenden Kühlern am Rande der Passstraße, Opfer des großen Vormarsches in den Süden. Seit den Romzügen der deutschen Kaiser bis zur Niederwerfung Europas durch die Wehrmacht war es immer so:

Wenn die Deutschen ihren Lebensraum erweiterten, seit 1945 glücklicherweise nur für drei Wochen an der Adria, war der massenhafte Vorstoß in die Ferne fast wichtiger als das Erreichen des Zieles.

Mein Vater, bald achtzig, fährt immer noch in den Urlaub. Das ist schön. Er tut dies immer noch zu Ostern, Pfingsten oder im Sommer, wenn alle anderen auch fahren.

Ganz wichtig war auf jeder Urlaubsfahrt der gelbe Eimer. Sobald ich auf der Rückbank des Autos sitzend der Berge ansichtig wurde, wurde mir schlecht. Ich glaube, damals hatten die Österreicher, aber auch die Jugoslawen, noch viel mehr Kurven in ihren Straßen als heute. Mein Vater rauchte gerne Pfeife im Auto. Sein Tabak hieß Prinz Albert.

Wenn sich das Aroma des kokelnden Prinz Albert im 17M verbreitete und der Ford dabei durch die Gebirgskurven schwamm, musste ich brechen. Ausführlich, lange und immer wieder. Manchmal hielten wir an, manchmal auch nicht. Wenn nicht, steckte ich meinen Kopf in den gelben Eimer. Meine Mutter sagte dann immer: "Kurti muss schon wieder spucken."

Die Fahrt mit Prinz Albert und dem Eimer war jedes Jahr der Preis für nahezu drei Wochen vollendeter Glückseligkeit. Mein Vater fing mit mir Fische, meine Mutter lag auf der Luftmatratze, in der Adria gab es noch Seesterne, und die ersten Jahre aßen wir jeden Abend im Hotelrestaurant.

Dies war ganz außergewöhnlich, denn zuhause gingen wir praktisch nie auswärts essen, weil mein Vater es, ich glaube grundsätzlich, ablehnte, fremden Menschen Geld für etwas zu geben, was man daheim billiger kriegte. Auch das ist ein Charakteristikum der Kriegsgeneration.

Deswegen, auch wenn das eigentlich nicht so direkt mit dem Urlaub zu tun hat, begleitete ich meine Oma immer gerne zu Versammlungen des VdK . Die fanden im Nebenzimmer des Birgmann-Bräu statt und es gab jedes Mal Schweinsbraten mit Knödeln. Seit damals habe ich eine bis heute anhaltende Sympathie für den VdK.

Ende der 60er Jahre beschloss mein Vater, nicht mehr nach Karlobag in Kroatien zu fahren, sondern auf die Insel Pasman in Kroatien. Dies war eine große Veränderung, weil wir von da an jeden August nicht mehr im Hotel wohnten, sondern im Privatquartier bei einem klumpfüßigen Fischer namens Marko. Im ersten Pasman-Jahr war ich anfangs ein wenig traurig, denn in der Umgebung von Karlobag waren einige der wunderbaren Karl-May-Filme mit Pierre Briece und Lex Barker gedreht worden.

Man merkt das übrigens auch daran, dass die Indianer in diesen Filmen phänotypisch genau so aussehen wie dreißig Jahre später jene serbischen und kroatischen Milizionäre, die sich im schönen ehemaligen Jugoslawien gegenseitig abschlachteten.

Damals jedenfalls, Mitte bis Ende der 60er Jahre, erschienen mir die Jugoslawen als ein freundliches, heiteres Völkchen. In dem Dorf auf Pasman, in dem wir wohnten, lief immer einer rum, der, sobald er Deutsche sah, "Flicken-decken" rief und dabei keckernd lachte. Mein Vater erklärte mir, das habe der "aus dem Krieg" und es heiße eigentlich: "Fliegerdeckung!"

Ich fand das lustig und rief dann auch immer "Flicken-decken". Manchmal sagte mein Vater: "Es reicht jetzt." Mein Vater war von 1943 an Soldat und hat nie sehr viel darüber gesprochen.

Auf Pasman gab es viele wunderbare Dinge, jedenfalls für einen Buben von elf oder zwölf Jahren. Marko hatte ein großes, dieselstinkendes Boot, auf dem wir manchmal zum Fischen mitfahren durften. Mindestens einmal in der Woche gab es einen am Spieß gebratenen Hammel, zu dem die Erwachsenen enorme Mengen von scheußlichem Slibowitz soffen, was auch mein Bruder, vier Jahre älter als ich, einmal tat und sich dann so furchtbar erbrechen musste wie ich sonst nur bei Prinz Albert.

Baden gingen wir immer an der gleichen Stelle. Einen Strand gab es nicht, so dass wir am Ende eines Feldwegs lagerten, der auf der einen Seite von einer Friedhofsmauer begrenzt wurde. Der Friedhof rund um eine Kirchenruine war herrlich verwildert und es gab offene Gruften, in denen sich gelegentlich eine graue Schlange auf Knochen ringelte. Mittags aßen wir fettige Würste, die meine Mutter in einer Eisenpfanne über offenem Feuer zubereitete. Wie gesagt, mein Vater ging nicht gern ins Restaurant.

Außerdem vermied er es mit nahezu religiöser Inbrunst, sein Auto zwischen der Ankunft in Pasman und der Abfahrt von dort auch nur anzulassen. Noch heute, fast vierzig Jahre später, sind das meine lebhaftesten Kindheitserinnerungen.

Urlaub ist eigentlich für Kinder gemacht. Wenn man dagegen mit Erwachsenen in den Urlaub fährt, besteht die große Gefahr, dass sich das alltägliche Elend des Erwachsenseins im Urlaub noch potenziert. Ja gewiss, es gibt Menschen, die auch als Erwachsene gerne Zeit mit anderen Menschen verbringen, sogar in den Ferien.

Sie setzen sich in der Provence an lange Holztische und schwatzen mit Freunden und Fremden über das Leben, das Reisen und die Politik. Ich mag die Provence schon deswegen nicht, weil ich nur schlecht Französisch kann. Der Franzose als solcher wiederum behandelt Menschen, zumal Deutsche, die schlecht französisch sprechen ungefähr so, als seien sie etwas, das die Katze von draußen hereingebracht hat. Nach Frankreich fahre ich deshalb nicht gern.

Nach Mallorca auch nicht, weil da alle hinfahren und es passieren kann, dass man Rudolf Scharping, Sabine Christiansen oder Uli Jörges auf der Straße trifft. Da kann ich gleich in Berlin bleiben und den Fernseher einschalten.

Jugoslawien scheidet als Reiseland völlig aus. Erstens gibt es Jugoslawien nicht mehr. Zweitens kann man keinen größeren Fehler machen als später irgendwohin zu fahren, wo man früher einmal glücklich war. Es wird dort nie wieder so sein wie damals. Wer sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt, findet zwar die Plätze wieder, aber sonst nichts.

Als ich mit elf in den Trümmern des Friedhofs auf Pasman stöberte, war alles aufregend, geheimnisvoll und exotisch. Führe ich heute dahin und würfe einen Blick in die schlangenberingelte Knochengruft, würde mir wohl ein Schädel die Frage entgegen grinsen: "Kommst du auch bald?"

Reisen ist wunderbar, wenn man es selten tut. Muss man es aber häufig tun, weil einen der Beruf dazu zwingt, kann es ganz furchtbar sein. Weil ich nichts Anständiges gelernt habe, zum Beispiel Jura, Betriebswirtschaft oder Holzbearbeitung, bin ich Journalist geworden. In dieser Eigenschaft war ich fast überall zwischen Island und dem Kap der Guten Hoffnung. Dazu gehörten 28 Stunden auf den Fidschi-Inseln, anderthalb Tage in Buenos Aires und sieben Mal Peking im Trosse diverser politischer Würdenträger.

Ich mag keine Flugzeuge mehr, keine Gepäckbänder, keine Hotelbars und keine Länder, die einem absurd große Visa in den Pass stempeln, um so ihre Souveränität zu beweisen.

Urlaub, so heißt es, sei dazu da, um die Seele baumeln zu lassen. Vielen Dank, 45 Wochen im Jahr baumelt die Seele ohnehin an jenem Strick, den man sich, blind wie einen Ehrgeiz, Gier und Egozentrik machen, im Laufe der Zeit emsig selber dreht. Versucht man nun diesen Strick binnen dreier Wochen auf den Malediven oder in Umbrien durchzuschneiden, fällt der ganze Kerl und mit ihm die Seele in ein Loch.

Da sitzt er dann und stellt fest, dass alles hätte anders sein können, aber es eben nicht anders ist. "Fahren Sie doch mal weg, entspannen Sie sich", sagt die wohlmeinende Kollegin im Büro. "Warum? Ich muss ja doch wiederkommen", lautet die Antwort.

Es ist ein Jammer, dass die Menschheit von der Pockenimpfung bis zum MP3-Player fast alles erfunden hat, nicht aber eine Maschine, die einem die einzige Reise ermöglicht, die sich wirklich lohnen würde - die Zeitreise. Was wäre dies großartig an diesem 31. Juli 2004: Ich gebe das Datum 1. August 1969 ein und die Koordinaten für Pasman, Jugoslawien.

Es macht schwupp, präääng, dschoing. Da ist dieser Feldweg wieder, die Bratpfanne, mein Vater mit der Taucherbrille und die Mutter mit der Brigitte auf der Luftmatratze. "Nein", sag ich, "ich mag noch nichts essen. Ich geh erst mal auf den Friedhof zu den Eidechsen." Ferien.

© SZ vom 31. 7. 2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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