Gipfelkonferenz, Teil 1:"Wer in die Berge geht, braucht ein Konzept"

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Heiner Geißler über das Bergsteigen als Lebensschule, hinderliche Seilgefährten und den Gipfel als unglückliche Metapher in der Politik.

Interview: Karl Forster

Berge und Gipfel sind mehr als nur Herausforderungen für Extrembergsteiger. Sie faszinieren Menschen aus vielen Bereichen der Gesellschaft; sie dienen als Kulisse für Filme, als Treffpunkt für Politik- und Wirtschaftsgrößen und sogar als Trainingsterrain für Ausdauersportler. Das Gespräch mit dem CDU-Politiker Heiner Geißler ist der Auftakt zu einer Interviewreihe über das Faszinosum Berg.

Heiner Geißler stellt sich gern schwierigen Aufgaben. (Foto: Foto: dpa)

Gipfelkonferenz, Teil 1

Heiner Geißler kommt ein paar Minuten zu spät in den Biergarten vom Poinger Hof. "Entschuldigung, ein Telefonat." Der Wirt nötigt dem prominenten Gast ein Glas Champagner auf und ein gemeinsames Foto ab. Der Bürgermeister werde auch gleich kommen. Heiner Geißler aber sagt nur, er hätte jetzt gerne ein Bier. Und dass er dann auch gleich wieder fahren müsse. Man erwarte ihn am Bodensee. Zum Vortrag.

SZ: Wenn man auf einem Tisch ein Stück Papier zusammenschiebt, entsteht eine kleine Gebirgslandschaft, weil sich der Platz für das Papier verkleinert. So entstanden vor Abermillionen Jahren Berge. Geologisch und mathematisch gesehen, sind Berge also große Flächen auf wenig Platz. Sie nehmen sich Ihren Raum in der dritten Dimension. Kommt von dieser Dimension vielleicht die Faszination an den Bergen?

Heiner Geißler: Es gibt drei Gründe für diese Faszination. Der erste: Oben sieht man mehr als unten. Das ist ein natürlicher Vorgang. Zweitens muss man Schwierigkeiten überwinden. Es ist immer wieder reizvoll, sich selber, nicht anderen, zu zeigen, dass man die Schwierigkeiten bewältigen kann. Zum Dritten: Bergsteigen ist Sport, ein faszinierender Sport, ein Hochleistungssport in phantastischer Umgebung. Das ist was völlig anderes, als im Stadion im Kreis zu rennen.

Ich sage immer: Leichtathletik ist Maloche, Tennis ist Handwerk, Bergsteigen ist Kunst. Man muss viele Dinge beherrschen: zum Beispiel das Wetter "lesen", die Sonne, die Sterne, man muss der Natur eng verwachsen sein.

SZ: Das Ziel des Bergsteigers ist in der Regel der Gipfel. Der Weg dorthin kann beschwerlich sein oder aber auch ein Genuss. Eines der Kapitel Ihres Buches "Bergsteigen" trägt die dem Buddhismus entlehnte Überschrift "Der Weg ist das Ziel". Ist es nicht vielmehr die Sehnsucht nach der Freiheit ganz oben, die einen auf den Gipfel treibt?

Geißler: Das ist wahr. Aber man darf den Gipfel nicht verabsolutieren. Sondern muss das, was die Berge unterhalb des Gipfels bieten, genauso wertschätzen wie den Gipfel selbst.

SZ: Gab es Touren, bei denen Sie den Gipfel nicht erreicht haben?

Geißler: Das ist oft passiert. Ich denke, 30 Prozent der Touren, die ich gemacht habe, wurden abgebrochen. Wahrscheinlich bin ich deswegen noch am Leben. In der Regel war das die Konsequenz aus einer richtigen Wetterbeobachtung. Bergsteigen hat ja was mit Risiko zu tun. Bergsteigen ist Abenteuer. Und jedes Abenteuer ist mit Gefahren verbunden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Heiner Geißler in den Bergen immer öfter auf "bergsteigerische Deppen" trifft.

SZ: Nimmt man die Gefahr billigend in Kauf, oder hat sie einen besonderen Reiz?

(Foto: Foto: dpa)

Geißler: Man kann und muss die Gefahren minimieren. Aber man kann sie nicht alle ausschalten. Es gibt objektive Gefahren und subjektive Gefahren. Den subjektiven Gefahren kann man Paroli bieten. Durch Kondition, durch Training, auch der Psyche. Die objektiven Gefahren, Steinschlag, Lawinen, Gewitter, kann man durch Wissen minimieren.

SZ: Bergsteiger waren früher eher ruhige, naturverbundene Menschen, für die die Einsamkeit des Gletschers und die Gefahr durch eine Spalte Alltag war. Das hat sich ja nachhaltig geändert. Heute wird im zwölften Grad geklettert, oft auch noch mit der Stoppuhr in der Hand. Ist es aus mit der Romantik am Berg?

Geißler: Deswegen nicht. Das ist begrenzt auf spektakuläre Fälle, auf Spitzensportler. Der Feind des Bergsteigens als Abenteuer, verbunden mit dem Beherrschen von Risiken, ist das Handy. Das Handy hat das Bergsteigen verändert. Heute kann sich jeder Idiot eine teure Ausrüstung kaufen und ins Gebirge gehen. Er hat ja das Handy dabei. Nur wenn er Pech hat, kommt er halt mal in ein Funkloch, das gibt es in den Alpen immer noch.

Davon abgesehen, gibt das Handy diesen Leuten so viel trügerische Sicherheit, dass sie nicht nur an die Grenzen gehen, sondern auch darüber hinaus.

Während meines ganzen Bergsteigerlebens gab es eine Grundregel: Gehe nie an deine Grenze. Ich hatte immer eine Reserve, um mich selber retten zu können. Ich musste mich noch nie retten lassen, meine Söhne und ich, mit denen ich meistens im Gebirge war, haben uns immer selber gerettet.

Aber von vornherein das Scheitern einzukalkulieren und in die Gefahr gehen, weil man weiß, man kann ja mit dem Handy den Heli alarmieren, das macht das Bergsteigen kaputt.

SZ: Das ist wie beim Segeln mit dem GPS. Jeder Depp segelt über den Atlantik, weil er weiß, wo er gerade ist, obwohl er von der Navigation mit dem Sextanten keine Ahnung hat.

Geißler: Genauso ist es. Das Handy ermöglicht es, dass jeder bergsteigerische Depp sich in die Berge wagt.

Lesen Sie weiter, warum sich Heiner Geißler nicht für einen Wadlbeißer hält.

SZ: Am Berg spielt die Partnerschaft mit dem Gefährten am Seil eine ganz besondere Rolle. Verlässlichkeit, Rücksicht, Vorsicht, Vertrauen, das sind die Schlagworte für eine Seilschaft am Berg. Sie haben nun nicht nur ein reiches Bergleben hinter sich, sondern ein ebenso reiches politisches Leben. Stichwort Seilschaft in der Politik, welche Tugenden sind da gefragt?

Geißler: Das Wort Seilschaft hat im Bergsteigen einen sehr positiven Sinn, in der Politik einen eher schlechten. Ich denke aber, dass das Bergsteigen Eigenschaften fördert, die man nicht nur in der Politik braucht, Eigenschaften, die insgesamt für das menschliche Zusammenleben wichtig sind. Also Solidarität, Vertrauen, sich aufeinander verlassen können, die Übersicht behalten, Risiken richtig einschätzen, vor allem: ein Konzept haben.

Wenn man in die Berge geht, braucht man ein Konzept. Zum einen dafür, wie man durch die Wand nach oben kommt, zum anderen vor allem aber ein Konzept für den Abstieg. Wenn ich in den Bergen in Schwierigkeiten kam, dann oft beim Abstieg. Es ist meist leichter rauf zu kommen als runter.

SZ: Das ist doch in der Politik nicht viel anders.

Geißler: In der Politik brauchen Sie kein Konzept für den Abstieg, das geht meist von selber.

SZ: Sie sind vielen Deutschen nicht nur als beredter Talkshow-Gast bekannt, sondern auch als einer der bedeutendsten Generalsekretäre, die die CDU je hatte, in Erinnerung. Bedeutend auch deshalb, weil Sie den Ruf als gnadenloser Wadlbeißer hatten. Solche Aggressivität wäre am Berg wohl nicht angebracht.

Geißler: Also, ich muss den Begriff Wadlbeißer zunächst mal mit Abscheu und Empörung zurückweisen. Das ist eine typisch bayerische Verunglimpfung. Ein Generalsekretär kann sich nicht vertreten lassen, der steht an der Front. Er hat die Aufgabe, sich mit dem politischen Gegner programmatisch auseinanderzusetzen. In einer Demokratie geht es nicht ohne Streit. Diese Auseinandersetzung ist der Job des Generalsekretärs. Sowas kann man nun im Gebirge überhaupt nicht brauchen.

Im Gebirge lernt man das Gegenteil: aufeinander Rücksicht zu nehmen. Zu dieser Rücksicht gehört auch Selbsteinschätzung. Im Gebirge kommt es immer auf die Geschwindigkeit an, Tempo ist die halbe Miete. Nichts ist am Berg hinderlicher als ein Seilgefährte, der nicht mehr mitkommt. Weil dann die ganze Seilschaft umkehren muss. Auch das ist anders als in der Politik.

In der Politik müssen Sie weitergehen, auch wenn andere nicht mehr mitmachen. Und möglicherweise einen Seilgefährten auch mal zurücklassen, weil er intellektuell oder politisch nicht mehr mitkommt.

Andererseits schafft das Bergsteigen natürlich sehr gute Voraussetzungen dafür, dass man es in der Politik richtig macht: Wenn Sie einen Ruhepuls von 52 haben, dann schmeißt Sie nichts so schnell aus der Kurve. Während die anderen völlig hektisch werden und rumeiern, bewahren Sie die Ruhe.

Lesen Sie weiter, warum Heiner Geißler den Begriff Gipfel in der Politik für schief hält.

SZ: Wenn man Sie heute in einer Talkshow reden hört - und man kommt Ihnen ja kaum dabei aus -, hat man den Eindruck, Heiner Geißler habe eine ähnlich dramatische Wandlung durchgemacht wie einst Saulus, der zu Paulus wurde. Nur dass Sie, designierter Lordsiegelbewahrer des gepflegten Konservativismus, heute reden, als seien Sie Vorstandsmitglied bei Attac. Wie kommt das?

Geißler: Das ist leicht erklärbar: Weil die Ziele von Attac im Wesentlichen identisch sind mit dem Grundsatzprogramm der CDU.

SZ: Aha. Was sagen die Attac-Leute dazu?

Geißler: Die staunen zwar auch, wenn wir sie darüber informieren: Attac will die Humanisierung des Globalisierungsprozesses. Genau dieses Ziel hat die CDU in ihr neues Grundsatzprogramm hineingeschrieben.

SZ: So täuscht also der Eindruck, Sie würden heute am liebsten die Grünen wählen? Was ja einem Bergsteiger nicht allzu fremd wäre.

Geißler: Ich, die Grünen? Niemals. Nein. Ich bleibe bei der CDU. Gut, die CDU macht Fehler, zum Teil gravierende Fehler. Aber die CDU ist eine Volkspartei, und wenn sie mal schief liegt, wird sie vom Volk bestraft. Wie bei der letzten Bundestagswahl.

SZ: Zurück zum Gipfel. Die internationale Politik hat sich den Gipfel als Synonym ausgeliehen. Der Gipfel von Davos, von Helsinki, von Kyoto. Da reisen dann die Mächtigen der Welt ganz bequem an. Ist das nicht eine Unverschämtheit echten Gipfeln gegenüber?

Geißler: Es ist eine etwas unglückliche Metapher, weil die Mehrzahl der Leute nie auf einen Berggipfel hochkäme, und zweitens, weil es viel zu viele sind. Es gibt kaum Gipfel, die so vielen Menschen Platz böten.

SZ: Herr Geißler, eine allerletzte Frage auch als Service für unsere Leser: Bei welchem Berg, bei welcher Route kommt für Sie beides idealtypisch zusammen, die perfekte Genusskletterei und das große Gipfelgefühl?

Geißler: Beim Südpfeiler auf das Schreckhorn. Erst mal muss man zwei, drei Stunden bis zum Einstieg richtig Sport treiben. Dann hat man 800 Meter beste Kletterei im roten Granit, Schwierigkeitsgrad fünf, sechs minus.

Man besteigt einen der schönsten Berge des Berner Oberlands, und hat einen interessanten Abstieg über den Südwestgrat - das ist eine vollendete Tour. Ein Viertausender, gleißender Gletscher, griffiger Fels, und ein spannender Abstieg.

Zur Person

Heiner Geißler, einst CDU-Generalsekretär unter Parteichef Helmut Kohl, ist inzwischen 78 Jahre alt und immer noch einer der aktivsten Ex-Politiker des Landes. Das gilt sowohl für seine Präsenz in Talkshows, sein Engagement für das globalisierungskritische Bündnis Attac als auch für seine lebenslange Leidenschaft, die Berge. In der dtv-Reihe "Kleine Philosophie der Passionen" hat Heiner Geißler ein Buch über das "Bergsteigen" geschrieben, das inzwischen auch als Hörbuch erschienen ist (Komplett Media Verlag).

© SZ vom 26.06.2008/lpr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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