Gesundheit:Die Entdeckung der Langsamkeit

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In unserer Stress-Gesellschaft heißt das neue Zauberwort "Entschleunigung"

In unserer Stress-Gesellschaft heißt das neue Zauberwort "Entschleunigung" Schnell noch die Anrufe erledigen und ab in die Besprechung, auf dem Weg kurz ein Blick in die Akte, wenn die Tagesordnung flott durchgeht, reichts für ein schnelles Mittagessen, schließlich müssen drei Themen noch heute abgearbeitet werden. Dazwischen rasch die E-Mails beantworten und mit den Kollegen kurz die Termine der Woche abgleichen, ein paar müssen noch reingequetscht werden. Mit etwas Glück klappt es sogar, im Supermarkt vorbeizurennen und schnelle Fertiggerichte zu besorgen. Und dann los, den alten Freund treffen, ewig nicht gesehen, auf einen Sprung nur, weil, da ist ja noch Ulis Party. Aber vor alledem - unbedingt zur Apotheke, irgendwas, das schnell gegen dieses Kopfweh und Magendrücken hilft.

"Don't hurry, be happy", öfter mal entspannen und die Hast aus dem Leben nehmen. (Foto: Foto: DPA)

60 Prozent der Erwerbstätigen in der EU klagen der Weltgesundsheitsorganisation WHO zufolge über Stress. Vor einigen Jahren ergab eine Emnid-Umfrage: Jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland fühle sich durch den Job ausgebrannt. Bereits jeder Dritte leidet ständig unter Stress-Symptomen. Kein Wunder, nach der Arbeit gehts ja oft turbogebräunt in vollem Tempo weiter: wettkampfmäßiges Mountainbiking, Disco-Hopping, Power-Shopping, superschnelle Datenleitungen, durch die uns der Computer auch daheim mit Infos überschüttet.

Wer gestresst ist, befindet sich also in großer Gesellschaft - im Trend liegt er aber nicht, denn der heißt fraglos Verlangsamung, Entschleunigung. Ratgeberbücher verheißen nicht mehr schnelle Erfolge in allen Lebenslagen, die Verbindung von Tempo und Effizienz ist gründlich out: "Abschied vom Turbokapitalismus", "Die Kunst, weniger zu arbeiten", "Warum es sich lohnt, faul, unpünktlich und unordentlich zu sein" oder "Don't hurry, be happy", "Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung", lauten die aktuellen Titel. Nicht lange her, man hätte dies für Botschaften verrückter Anarchisten gehalten. Aber die Beweislast ist erdrückend, dass ein weniger gehetzter Mensch kreativer, produktiver, freundlicher und vor allem gesünder ist.

Unter Joggern gilt es schon als Binsenweisheit, dass dauernd am Limit zu laufen nicht günstig ist. Aber dies auf den Rest des Lebens anzuwenden, fällt offenbar schwer. Zeit- und Selbst-Management- Experte Professor Lothar Seiwert, 50, Autor von Bestsellern zum Thema und Chef eines Beratungsinstituts, hat hunderte Seminare geleitet. Zum Teil sei es altes Wissen, um das es gehe, aber ein Part seiner Arbeit besteht darin, aus Gewusstem auch Bewusstes zu machen. Und aus Erfahrung weiß er: "Manche wachen erst auf, wenn sie auf der Intensivstation liegen", zu Veränderungen sei der Mensch nur bereit unter "pressure and pain", also wenn's schon weh tut.

Das Burnout-Syndrom, die chronische Erschöpfung, ist nur ein Krankheitsbild. Wenn unter Stress der Pegel des Hormons Cortisol steigt und nicht mehr fallen kann, herrscht im Organismus Daueralarm. Von Schlafstörungen, Diabetes, Skeletterkrankungen und Verdauungsproblemen bis zu Depressionen reichen die unerfreulichen Möglichkeiten, und Herz-Kreislauferkrankungen sind weiter Killer Nummer eins. Ruhe wirkt lebensverlängernd, weil der Motor Herz eine begrenzte Leistungsfähigkeit hat, bis zu drei Milliarden Schläge schätzt man - die Frage ist, auf wie viele Jahre sie sich verteilen, wenn Stress den Puls hochjagt.

Leerstellen im Leben

Die wachsende Lust auf Langsamkeit mag vom Ende des superbeschleunigten Kapitalismus befördert sein. Als die New Economy kollabiert war, tauchten größere Leerstellen nicht nur auf Konten auf, sondern auch in manchem Leben: Denn wo bitte war dessen Sinn geblieben oder der Freundeskreis von einst? Lothar Seiwert sagt, dies sei auch typisch für das "zweite Erwachsenenalter" um die 40. Jüngere hörten nicht hin beim Thema Verlangsamung. "Aber wenn das Haus gebaut, der Baum gepflanzt und das schnelle Auto in der Garage sind, kommt der Wunsch nach einem nicht nur gefüllten, sondern auch erfüllten Leben."

Zauberwort Entschleunigung: Seminare für Führungskräfte haben Konjunktur, die sich mit der Verlangsamung in Beruf und Privatleben befassen, Trainer bringen Highspeed-Managern bei, sich und andere zu bremsen: "Ihr müsst Boxenstopps einlegen", predigt Seiwert Vielbeschäftigten beispielsweise. Andere Kurse können so aussehen, dass Teilnehmer sich tagelang im Zeitlupentempo bewegen - fünf Meter zur Toilette müssen ein Viertelstündchen dauern, das Binden der Schnürsenkel mindestens zehn Minuten.

Aber natürlich stößt die Entschleunigung im Alltag an Grenzen. Die Mitteilung, Langsamkeit steigere den Wert der Arbeit, kommt nicht bei jedem Chef und jedem Kunden gut an, erst recht nicht in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Und Familien ganz ohne Hektik gibt es höchstens im Film. So rät Lothar Seiwert nicht, sich für Langsamkeit oder Tempo zu entscheiden, sondern beides in Balance zu halten, im "Fluss der Zeit" zu leben. Der Weg dorthin führt für ihn über eine Vereinfachung des Lebens, das, von zeitraubendem inneren und äußeren Ballast entrümpelt, Freiräume eröffnet - um Ruhe zu finden oder Neues zu entdecken.

Regelmäßige Bewegung scheint noch immer einer der besten Stress-Killer zu sein. Sie mildert Angst, Depression und Aggressivität. Aerobic, Rad fahren und Schwimmen helfen, besonders Jogging, wie man an der Universität Kansas herausfand. Und bei der Eroberung der Langsamkeit schaut man vom hektischen Westen auch wieder einmal nach Asien, dort hat man's sozusagen erfunden - Achtsamkeit auch für kleinste Dinge, die in der Eile keiner sieht. Bedächtigkeit, Konzentration, Reduktion aufs Wesentliche - der Buddhismus bietet eine reiche Quelle. Meditation, Yoga und Zen oder Tai Chi sind quasi Gegen entwürfe zu Eile und Hektik. Eine simple Übung für mentale Entschleunigung, das Abschalten und Konzentrieren auf nur eine Sache, kennt Lothar Seiwert, der übrigens das superlangsame Faultier schätzt: Wenn Sie das nächste Mal ein Vier-Minuten-Ei kochen, tun Sie während dessen nichts, als das Ei zu beobachten. Das wird für manchen ganz schön schwierig.

© Andrea Bachstein - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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