Expeditionskreuzfahrten:Besuch der alten Dame

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Seit 60 Jahren ist die "MS Nordstjernen" in arktischen Gewässern unterwegs zu Gletschern, Fjorden und so mancher Entdeckung.

Von Ingrid Brunner

Svalbard, kalte Küste, so nennen die Norweger Spitzbergen. Und kalt ist es in der Tat: Auch in den Sommermonaten sind Pullover, Anorak, Handschuhe und Mütze vonnöten. Die Durchschnittstemperatur liegt dann bei fünf Grad. Dem Nordatlantikstrom, einem Seitenarm des Golfstroms, ist es zu verdanken, dass zumindest die Westküste während des Sommers eisfrei ist. Ein Umstand, den von Jahr zu Jahr mehr Kreuzfahrtschiffe nutzen. Etwa die altehrwürdige Nordstjernen. Sechzig Jahre alt ist sie schon, viele Schiffsliebhaber schwärmen von ihrer Bauweise, von Teakholz und Messing statt Kunststoff, Edelstahl und Glas - da geht ihnen das Herz auf. Gebaut wurde das Schiff bei Blohm & Voss in Hamburg, 1956 in Dienst gestellt, seit 2012 steht es unter Denkmalschutz.

Tormod Karlsen ist nur wenig älter als die Nordstjernen. Der 67 Jahre alte Kapitän lehnt lässig an der Tür zur Brücke. Eigentlich ist er schon in Rente. Früher fuhr er auf der Hurtigrute Bergen-Kirkenes-Bergen, jahraus, jahrein. Jetzt fährt er nur noch im Sommer, auf der Nordstjernen, im Wechsel mit einem anderen Kapitän. "Wenn du einmal hier warst, willst du immer wieder zurückkommen", sagt er und blickt von seinem Kommandostand auf den Monacogletscher hinaus.

Denkmalgeschützt, aber noch lange nicht reif fürs Museum ist die MS Nordstjernen. (Foto: Ingrid Brunner)

Drinnen atmet alles den Geist der Fünfzigerjahre: die Schiffsglocke an der Decke, das Ruder aus gedrechseltem Holz, das mächtige, muschelförmige Wandtelefon, die blau gestrichenen Gusseisen-Apparate - fast wie bei Kapitän Nemo. Doch das ist keine Deko: "Die Geräte funktionieren und werden alle noch genutzt", sagt der Kapitän. "Sogar die blaue Farbe hier ist original", schiebt er nach. Auch sein verfilzter blauer Pullover sieht aus wie ein Original von damals, doch Äußerlichkeiten sind dem wettergegerbten Karlsen egal. Ob Schiff, Kapitän, Pullover: alt, ein bisschen verbeult, aber noch gut in Schuss. Das Schiff liegt vor Anker, er hätte jetzt Zeit für ein Schwätzchen. Doch er schaut gebannt auf die blau schimmernde Smeerenburg-Gletscherfront, als sähe er sie zum ersten Mal.

Am 80. Breitengrad dösen Walrosse auf der Kiesbank, ihr Bestand erholt sich langsam

Besonders gesprächig ist er nicht. Was sich geändert hat in den Jahren? Nun, zum einen zwängt sich die neue Zeit in Form von moderner Navigationstechnik zwischen die alten Gerätschaften auf der Brücke: GPS, Sonar, Radar. Weniger sichtbar für die Passagiere, die nur einmal im Leben hierherkommen, sind die Veränderungen draußen, in der Natur. "Noch vor zehn Jahren", sagt er, "konnte man den Fjord kaum befahren vor Eis." Nun ziehen sich die Gletscher immer weiter zurück.

Das Kommando und in etwa die gleiche Altersklasse wie sein Schiff hat Kapitän Tormod Karlsen. "Wenn du einmal hier warst, willst du immer wieder herkommen", sagt er. (Foto: Thomas Bujack)

Höhe- und Umkehrpunkt der fünftägigen Expeditionskreuzfahrt ist die Überquerung des 80. Grads nördlicher Breite. Der ist bei der Insel Moffen erreicht, eigentlich eher eine Kiesbank, vor allem aber ist sie die Heimat einer Walrosskolonie. Genauer gesagt, ist sie das wieder. Denn einst war Moffen eine Walross-Schlachtbank. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts, kurz vor der Ausrottung dieser langsamen und ausgelieferten Tiere, wurde die Bejagung gestoppt. Heute dösen dort wieder gut hundert Walrosse in der Sonne. Ein paar neugierige Tiere schwimmen aus der Lagune, tauchen auf und wieder ab und beäugen das Schiff, das sich nur auf maximal 300 Meter nähern darf. Kein Problem für die Passagiere. Dutzende Teleobjektive der neuesten Generation haben die Tiere im Visier. Ein Anblick für sich.

Gute nautische Tradition will es, dass die Überquerung des 80. Breitengrads gefeiert wird. Die Schiffshupe ertönt, man stößt mit einem Gläschen Schaumwein an, blickt auf die scharfkantigen, von Gletschern glatt gehobelten Berge und fröstelt ein wenig. Trotz der Kälte spielt sich das Bordleben weitgehend draußen ab - achtern auf dem Sonnendeck. Wozu schließlich gibt es all die tolle Funktionskleidung? Die Nordstjernen hat als Oldtimerschiff den Vorzug, dass die Passagiere auf dem Sonnendeck so nah am Wasser sind wie auf einer Yacht.

SZ-Karte (Foto: SZ-Karte)

Das sehen viele als den wahren Luxus einer solchen Schiffsreise an. Denn, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die winzigen, spartanischen Kabinen taugen sicher nicht als Verkaufsargument. Doch wie sagte Expeditionschef Heiko Kühr aus Rostock gleich nach der Einschiffung: "Die Show findet draußen statt, nicht in den Kabinen, geht raus, drinnen gibt es nicht viel zu sehen." Stimmt so aber nicht ganz. Raus aus den Kabinen: einverstanden. Aber das Interieur der Nordstjernen ist schon ein kleines Gesamtkunstwerk - zumindest für Menschen, die den Retrostyle der Fünfzigerjahre mögen. Und dieser Stil blieb auch nach zwei Renovierungen weitgehend erhalten.

Das Dekor erinnert nicht zufällig an Paul Gauguin: Es ist die Handschrift des norwegischen Künstlers Paul René Gauguin, eines Enkels von Paul Gauguin. Bunte tropische Fische und fantastische Meereskreaturen zieren die Wände der Salons und Treppenaufgänge. Doch ungeachtet der Südseeträume im Inneren: Die Nordstjernen ist ihrem Namen treu und fährt schon ihr gesamtes, 60 Jahre langes Schiffsleben in den kalten Gewässern Nordeuropas.

Beim Ausflug zur Gletscherfront zertrümmert die Bootsschraube unter dem Boot schwimmende Eisbrocken. Es klingt unheimlich und doch vertraut, wie ein Eiscrusher, der Eis für den Longdrink püriert. Wer will, fischt sich ein paar kleinere Brocken aus dem Wasser - für den Cocktail an Bord. Doch der nächste Drink muss jetzt warten: Die Show findet draußen statt. Der Magdalenefjord im äußersten Nordwesten der Hauptinsel Spitzbergen ist Teil des Nordvest-Spitsbergen-Nationalparks. Die Landschaft hat bereits die holländischen Walfänger begeistert. So sehr, dass der Fjord den Namen einer schönen Frau tragen sollte. Offenbar kannten sie nicht allzu viele schöne lebenden Frauen, so fiel die Wahl auf die biblische Maria Magdalena.

Im 17. und 18. Jahrhundert kochten hier die Walfänger den Walspeck, Blubber genannt, zu Tran, um ihn dann in Fässern nach Europa zu transportieren. Reste der Öfen sind heute noch zu sehen. Auch Gräber von circa 130 Walfängern sind in der Bucht von Gravneset erhalten.

Wer will, kann diese Kreuzfahrt auch als eine Studienreise sehen. Zu besichtigen sind neben der überwältigenden Natur die Anfänge ihrer industriellen Ausbeutung: Walrosse, Wale, Robben und selbst Eisbären waren aus Sicht der damaligen Zeit lediglich wertvolle Rohstoffe. Man kann sich auf die Spuren der Trapper in Spitzbergen begeben. Verglichen mit der Geschichte ihrer nordamerikanischen Pendants sind die "Fangstmannen" ein wenig bekanntes Kapitel. Norweger und russische Siedler - die Pomoren - überwinterten hier unter unvorstellbar harten Bedingungen, um Pelztiere zu jagen. Unter den Jägern gab es echte Berühmtheiten wie den "Eisbärenkönig" Henry Rudi, der sich stolz vor einer Pyramide aus Eisbärschädeln ablichten ließ. 115 Schädel - die Ausbeute nur einer Fangsaison. Als die Nordstjernen in Bergen auf Jungfernfahrt ging, war Tormod Karlsen ein siebenjähriger Knirps, und in Spitzbergen wurden noch Eisbären geschossen. Erst 1973 wurden sie international unter Schutz gestellt.

Und heute? Heute ermahnt das Expeditionsteam die Passagiere auf jedem Landgang, auf den Wegen zu bleiben. Tourguide Rémy Bischof erklärt, dass der Boden der Tundra mit seinen Flechten und Moosen sehr empfindlich sei und die spärliche Vegetation im kurzen arktischen Sommer nur ganz langsam nachwächst. Heute bringen Bischof und seine Kollegen Müllsäcke mit an Land. Etwa beim Ausflug zu den warmen Quellen im Bockfjord. "Clean up Svalbard", lautet das Motto. Denn das globale Förderband Nordatlantikstrom transportiert nicht nur tropische Hölzer aus dem Golf von Mexiko bis hinauf ins Arktische Meer. Die gleiche Mechanik spült hier den Plastikmüll der Welt an die Strände. "Wer mitmachen möchte, kann Müll sammeln. Wir bringen ihn an Bord", sagt der Franzose Bischof in fehlerfreiem Deutsch. So kommt es, dass deutsche, chinesische, französische Touristen in der Arktis eifrig Plastikmüll einsammeln, den ihre Zeitgenossen andernorts ins Meer werfen.

Zurück an Bord hat man wieder leichtere Gedanken. Zum Beispiel, dass sich hier im hocharktischen Sommer Mitternacht und Sonnenbrand nicht ausschließen. Oder man steht einfach nur auf dem Sonnendeck, atmet die klarste Luft, die es gibt, und lauscht der Stille. Einzige Sorge: Die Dose Spitsbergen Pale Ale, gebraut in der Svalbard Bryggeri, der nördlichsten Brauerei der Welt, könnte an der Hand festfrieren. Die Gletscher schimmern in der Mitternachtssonne und schicken einen Eishauch von der kalten Küste über das Deck.

© SZ vom 13.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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