Ende der Reise:Bibbern statt bräunen

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Der Tourismus kam einst ins Laufen, weil es einigen reichen Engländern im Winter zu kalt war auf ihrer Insel und sie deshalb ans Mittelmeer gereist sind. Doch mit zunehmender Erwärmung werden kalte Ziele das neue heiße Ding im Reisemarkt.

Von Stefan Fischer

Die ganze Sache mit dem Tourismus kam im Grunde nur deshalb ins Laufen, weil es einigen reichen Engländern im Winter zu kalt war auf ihrer Insel und sie deshalb ans Mittelmeer gereist sind. Daraufhin ist den Kontinentaleuropäern alsbald bewusst geworden, dass sie sogar die Sommer als zu kühl empfinden in Aarhus und Augsburg, in Zwickau und Zwolle. Seither siedeln ganze Nationen im Juli und August über auf Mallorca und die Kanaren, in die Ägäis, an die Adria und die Côte d'Azur.

Inzwischen gibt es jedoch innerhalb eines Jahrzehnts mindestens drei Jahrhundertsommer. Warm ist es also auch am Wannsee, der Temperaturen wegen muss niemand mehr in den Süden. Zumal sich Früh-, Hoch- und Altweibersommer in Summe inzwischen über die Zeit von Mitte Februar bis Anfang November ausdehnen.

Der erste Engländer, der winters ans Mittelmeer gereist ist, hatte zuvor mutmaßlich in seinem Londoner Club eine Wette abgeschlossen. Er werde beweisen, dass es mehr als nur eine Jahreszeit gibt, mehr also als das sattsam beklagte britische Nasskalt.

Allmählich wird es Zeit, den Beweis neuerlich anzutreten. Jetzt, da jüngere Menschen gar nicht mehr wissen, dass es außer sommerlichem Sonnenschein noch andere Wetterlagen gibt. Oder kann sich jemand an einen Winter erinnern?

Weil Exotik ein Antrieb ist fürs Verreisen, werden Touristen in absehbarer Zeit ihre Urlaubstage statt fürs Schnorcheln für Schneeballschlachten aufsparen. Sie werden in den Ferien Schneemänner bauen statt Sandburgen, werden Schlittschuh laufen statt surfen. Sie werden bibbern statt baden. Die Weihnachtsferien werden die Hauptreisezeit. Murmansk wird das neue Mallorca und Kiruna das neue Kreta.

Wer wettfreudig ist, kann schon jetzt darauf setzen, ob Kanada oder Island dereinst das beliebteste ausländische Reiseziel der Deutschen sein wird; ob Russ- oder Finnland Außenseiterchancen haben; und in welchem Jahr Spanien diesen Spitzenplatz verlieren wird. Bald werden Italienischkurse an Volkshochschulen keine Konjunktur mehr haben. Wir Wein- werden zwangsläufig Wodkakenner. Kurz: Eis wird das neue heiße Ding im Tourismus.

© SZ vom 27.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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