Ein Winternachtsalptraum:Sauerkraut um halb zwei

Lesezeit: 4 min

Wie eine Reise nach Bergamo zum Schrecken eines jeden Flugreisenden wurde.

Katharina Böhringer

Vielleicht hätte ich schon umkehren sollen, als mein Rollkoffer im Schnee stecken blieb, weil Streusalz die Radlager verstopft hatte. Vielleicht hätte ich stutzig werden sollen, als mich um 16.30 Uhr auf dem Weg zum Bus-Shuttle nach Frankfurt/Hahn die SMS meiner Freundin aus Bergamo erreicht: "Hoffe, Du hast warme Sachen eingepackt, es beginnt gerade zu schneien." Vielleicht hätte ich auch einfach mal die Wettervorhersage für Italien beachten sollen.

Widrige Witterungsbedingungen:Jetzt ist Geduld gefragt. (Foto: Foto: dpa)

Jedenfalls sitze ich, es ist mittlerweile 17 Uhr, inmitten überdimensionaler Hochglanztüten im Transfer-Bus, der mich vom Frankfurter Hauptbahnhof zum Billigflieger bringen soll. Die Hochglanztüten mit Weihnachtsbaum- und Engelmotiven haben meine Mitfahrer, allesamt Italiener auf der Heimreise, von der Messe Christmas World mitgenommen - vielleicht hätte ich auch hier ahnen können, dass dies nur der Beginn einer Kuriositäten-Kette sein wird.

Am Frankfurter Flughafen (dem "echten"), packen wir noch vier weitere Gäste in den Bus, zwei davon auf die Treppe des hinteren Ausstiegs. Auf die Frage des Fahrers, ob das so ginge: "Kein Problem! Für den halben Preis..."

Der Countdown läuft

20.30 Uhr: Boarding Time. Wie bei den meisten Flügen mit Billigfliegern üblich, stürmen bereits eine halbe Stunde vorher discountflugerfahrene Reisende an die Absperrbänder des Gates. Schließlich gibt es keine Platzkarten und wer zuerst kommt... Gegen 20.45 Uhr trippeln die meisten nervös von einem Bein auf das andere, Gemurmel breitet sich im Sicherheitsbereich aus.

Dann, um 21 Uhr - der Flieger sollte eigentlich jetzt in die Luft gehen - die Durchsage: "Wegen des hohen Schneeaufkommens am Zielflughafen wird der Flug nach Mailand/Bergamo erst gegen 22.30 Uhr abfliegen." Das obligatorische: "Wir bitten um Ihre Geduld", geht im Seufzer unter, mit dem sich die meisten gerade wieder auf die Plastiksessel plumpsen lassen. Aus Bergamo höre ich, wieder per SMS, dass dort die Stadt gerade mal vom Schnee gepudert worden ist. Von Schneechaos könne nicht die Rede sein.

Sauerkraut!

Mein Sitznachbar schmökert nun im Lametta-Katalog, seine Begleitung durchstöbert ein Heft über Christbaumkugeln. Ich muss an das Sauerkraut in meinem Koffer denken, das eigentlich schon bald wieder in den Kühlschrank müsste - und an den Geruch, der sich hoffentlich nicht schon in meinen Kleidern abgesetzt hat. Ich sehe mich schon als sauerkrautstinkende Touristin durch Mailand flanieren. Und das alles nur, weil meine Freundin für ein paar italienische Freunde "typisch deutsch" kochen will.

Mittlerweile ist es 21.30 Uhr und zwei Stewardessen erscheinen am Gate. Fast panisch springen die Fluggäste in spe auf und recken ihre Tickets nach vorne. Gegen 22 Uhr ist der Flieger voll, die Taschen verstaut, ich befinde mich bereits in meinem autistisch anmutenden Flugmodus: ineinander gekrampfte Schweißhände, starrer Blick, Kreuz kerzengerade.

Der Pilot meldet sich. "Endlich", denke ich, "es geht los." Doch weit gefehlt. Der nette Herr aus dem Cockpit teilt uns mit, dass er frühestens um elf starten darf, aber den brillanten Einfall hatte, uns schon vorher in den Flieger zu holen - vielleicht ließe sich dann doch der Start beschleunigen. Es folgen die Sicherheitseinweisungen, und irgendwie scheinen sich alle mit einer weiteren Stunde Warterei abgefunden zu haben. Billigflugreisende sind schließlich leidensfähig.

Der Countdown läuft noch immer

"Here is your Captain again", tönt es keine halbe Stunde später aus dem Lautsprecher. Es tue ihm Leid, da könne man nichts machen, wir starten erst um zwei Uhr morgens! Es schneie weiterhin in Bergamo und der Flughafen bekäme es nicht in den Griff, die Landebahn zu säubern. Waren die Fluggäste bis dato noch ein Musterbeispiel an Geduld und Fügsamkeit, setzt sich langsam das italienische Temperament durch. Überall werden jetzt die Handys ausgepackt. Gut, dass ich den Großteil der Tiraden nicht verstehen kann.

Immerhin, um 23 Uhr setzt sich die Boeing 737-800 plötzlich in Bewegung. Wir dürfen doch starten! Freudig rollen wir der Startbahn entgegen. Dann wieder Stillstand. Der Tower habe "probably" ein "controlling problem", was auch immer das sein mag. Jedenfalls stehen wir nun auf dem Rollfeld. Dann fährt der Vogel erneut an. Als Passagier wird man spätestens jetzt das unangenehme Gefühl nicht los, dass da gerade ein hektischer Wortwechsel zwischen Tower und Cockpit stattfinden muss, auf den die Piloten je nach dem neuesten Stand reflexhaft reagieren.

Kurze Zeit später Versuch Nummer zwei. Wir sind inzwischen zu einer weiteren Startbahn um die Ecke gerollt und da, endlich, das Signal: "Cabin Crew, we are ready to take off!" Die Turbinen heulen, die Geschwindigkeit beginnt schon, mich in den Sitz zu drücken, ich erwarte, gleich abzuheben, die Punktlichter auf dem Asphalt verdichten sich zum Streif. Stattdessen quietscht und rumpelt es, das Flugzeug wackelt nach links und rechts, bremst abrupt.

"The flight has been cancelled for tonight"

Der Flughafen Mailand Orio ist geschlossen worden. Ein italienischer Orkan zieht um mich herum auf und nimmt zielstrebig Kurs auf die einzige italienisch sprechende Stewardess an Bord. Noch als die Türen längst zum Aussteigen geöffnet sind, bewegt sich die Menge nicht nach draußen, sie entlädt ihren Frust verbal an der bemitleidenswerten Person. Andere bleiben einfach sitzen, beteuern, sie würden den Flieger nicht wieder verlassen.

Schließlich stehen aber doch alle am Gepäckband und warten auf die Herausgabe der Koffer. Es ist 23.30 Uhr, die Schlange vor dem Ticketschalter schwillt immer weiter an. Vorne in der Reihe bricht ein Mädchen in Tränen aus. Die Dame am Schalter hat ihr gerade unterbreitet, dass sie zwar umbuchen kann, aber dieses Wochenende wohl nicht mehr nach Bergamo fliegen könne. Venedig habe sie im Angebot. "Wir sind eben ein Billigflieger, was erwarten Sie?", heißt es. Verschuldet habe die Fluggesellschaft das Malheur schließlich auch nicht.

Ich haste zum Bus und erwische den letzten für heute, um 0.30 Uhr. Ich will nur noch nach Hause. Über acht Stunden bin ich mittlerweile "auf Reisen". Ich blicke mich um und befinde mich in der exakt selben Gesellschaft wie zuvor. Kaum einer hat umgebucht, alle werden nun versuchen, auf anderen Wegen nach Bergamo zu kommen. Die meisten nehmen den Zug. Vielleicht springt gleich der Busfahrer in den Gang und will uns Rheumadecken verkaufen - wundern würde mich heute nichts mehr. Um zwei Uhr bin ich endlich daheim. Nach zehn Stunden Kreislauf.

Ich melde mich erschöpft bei meiner Freundin in Bergamo. Die trinkt gerade mit ihrer Mitbewohnerin den Rotwein, der zur Feier des Tages für meine Ankunft bestimmt war. Ich füttere vor dem Schlafengehen noch schnell den Mülleimer mit Sauerkraut.

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