Der geplante Nationalpark Locarnese:Täler mit Geschichte

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Im Parco Nazionale del Locarnese sollen alte Traditionen neu belebt werden. Fast vergessenes Handwerk und auch verdrängte Kapitel der Heimatgeschichte werden wieder gegenwärtig. Nicht allen gefallen diese Pläne.

Von Stephanie Schmidt

Quietschend rollt die Centovallina über eine Schlucht, tief unten tost der Fluss Melezza. Das einnehmende Landschaftsbild zeigt sich kurz bevor der Zug in den Bahnhof des Dorfs Intragna einrollt. Diese Schlucht ist nicht Intragnas einzige Attraktion.

Im Hauptort des Centovalli-Tals, zu dem 21 Gemeinden gehören, steht der höchste Glockenturm des Tessins. Ihn mit Stefan Früh zu besteigen lohnt sich, denn er weiß viel über den 65 Meter hohen Turm und über Intragna zu erzählen. Der Turmwart ist hier geboren und war früher Bahnhofsvorsteher. Das wurde ihm zu langweilig. Heute ist er Präsident des lokalen Verkehrsvereins und ständig auf Achse. "Kommen Sie, um zwölf Uhr läutet oben die große Glocke in Richtung Locarno", bittet er die Besucher in das enge Treppenhaus, das auf den zwischen 1765 und 1772 errichteten Turm der Kirche San Gottardo führt. Oben verrät er, dass er unlängst ein Haus nahe der Kirche gekauft hat. Er will dort ein Glockenmuseum einrichten. Besucher sollen dort später erfahren, welche Traditionen sich in verschiedenen europäischen Ländern an Kirchenglocken knüpfen.

Auch wenn es hier um sanften Tourismus gehen soll, sind nicht alle Einheimischen begeistert

Sich selbst sieht Früh als Netzwerker, er entwickelt für das geplante Nationalpark-Projekt des Locarnese Veranstaltungen, die Menschen die Geschichte und Kultur des Tessins näherbringen. Das geplante Parkgebiet erstreckt sich über verschiedene, nordwestlich des Lago Maggiore gelegene Täler, darunter das Centovalli, Terre di Pedemonte und das Valle Onsernone. Beim Nationalpark-Projekt geht es darum, Besucher zu verborgenen Schätzen der Region zu führen, sie mit interessanten Charakteren, Landschaften, Aktivitäten und Traditionen vertraut zu machen. Über eine Strecke von 35 Kilometern erhebt sich der Park von den Brissago-Inseln im Lago Maggiore bis zum Wandfluhhorn (Pizzo Biala) - von 193 auf 2863 Meter über dem Meeresspiegel. Der Parco Nazionale umfasst eine Kernzone, in der sich die Natur frei entfalten soll, und eine Umgebungszone, in der nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung gefördert wird. In Zusammenhang mit dem Vorhaben sind bereits an die 90 Projekte und geführte Touren entstanden, die teils außergewöhnlich sind - wie ein Botanik-Trekking, der Besuch einer Dreherei für Holzfiguren oder der einzigen Teeplantage der Schweiz auf dem Monte Verità. Entsteht der Parco Nazionale del Locarnese, erhält er für Aktivitäten, die dem Umweltschutz, dem Erhalt des Kulturerbes und dem sanften Tourismus dienen, ein Budget von circa fünf Millionen Schweizer Franken. 60 Prozent davon trägt die Bundesregierung, 20 Prozent der Kanton Tessin, den Rest steuern Sponsoren und die Gemeinden auf dem Gebiet des Parks bei. Ob er gegründet wird, entscheiden die Einwohner der Gemeinden. Die Abstimmung ist für spätestens Ende 2018 geplant.

Stefan Früh hofft, dass der Nationalpark Realität wird, "weil wir vom Campanilismo wegkommen müssen - von einer Mentalität, bei der jeder nur an seinen eigenen Kirchturm denkt". Wer mit ihm das Dorf mit seinen zahlreichen Rustici - 300 bis 400 Jahre alte Steinhäuser aus Granit - Weingärten und Palmen erkundet, erfährt auch, wie die Menschen hier vor 100 Jahren gelebt haben. Ganz anders als heute. "Vor zwei Generationen hatten wir noch keinen Wohlstand. Für meine Mutter, auch für meine Großmutter war es nichts Ungewöhnliches, mit einer Last von 20 Kilogramm den ganzen Tag in den Bergen unterwegs zu sein", erzählt Früh. "Sie brachten mit der Rückentrage auch Käse, Butter oder Heidelbeeren zum Markt, um diese Produkte zu verkaufen." Von seiner Großmutter hat der Tessiner gelernt, wie man Maroni im Grà, einem traditionellen Dörrhäuschen, röstet und konserviert.

Auch ein noch immer verschwiegenes Kapitel aus der Zeit seiner Großmutter kennt er. Früh macht Führungen über die Geschichte der Kaminfegerkinder des Centovalli. Noch im 20. Jahrhundert schickten arme Familien aus Intragna und den Nachbardörfern ihre Buben nach Italien und in andere Länder, wo sie unter elenden Lebensbedingungen schuften mussten. Manche dieser spazzacamini waren noch nicht einmal zehn Jahre alt. "Meine Großeltern haben das verdrängt, und viele Tessiner verdrängen das bis heute", sagt Früh. Die Tour, die Besuchern das Schicksal der Kaminfegerkinder näherbringt, ist eine von zahlreichen Themenführungen, die zum Nationalparkprojekt gehören.

Manche Gemeinden haben Vorbehalte gegen den Nationalpark, sagt Samantha Bourgoin, die Direktorin des Projekts, die mit ihrem zehnköpfigen Team das Konzept für ihn entwickelt hat. "Sie befürchten einen Ansturm von Touristen. Andere sind grundsätzlich gegen alles Offizielle", erklärt sie. Bisweilen meldet sich ihr Handy im Fünf-Minuten-Takt mit einem Geräusch, das Grillenzirpen gleicht - einmal mehr hat eine Kommune eine Frage. Von früh bis spät ist Bourgoin in den Tälern unterwegs, um Überzeugungsarbeit zu leisten und sich ein Bild davon zu machen, wie sich einzelne Vorhaben weiterentwickelt haben. Wenn man mit ihr das Onsernonetal mit seinen Dörfern erkundet, die wie Nester auf bewaldeten Hängen sitzen, kann man die Bedenken nachvollziehen, die manche Einheimische hegen. Eine schmale Straße führt über viele Haarnadelkurven in das saftig grüne, tief eingeschnittene Tal, in dem Weißtannen besonders gut gedeihen. Manchmal hört man nichts als den Wind in den Wipfeln rauschen, ein paar Vögel, einen Bergbach gluckern. Im Sommer leben hier 700 Einwohner, im Winter sind es weniger. "Vor 200 Jahren waren es 3000 Einwohner", berichtet Bourgoin. Die Wildheit des Tals zog im 20. Jahrhundert viele Kulturschaffende an. So gehört zum Veranstaltungsprogramm im Namen des Nationalpark-Projekts ein literarischer Spaziergang durch das Dorf Berzona, wo Golo Mann und Alfred Andersch an ihren Werken arbeiteten, auch Max Frisch lebte zeitweise dort.

Im Valle Onsernone entdeckt man herrschaftliche Häuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert zwischen einfachen Steinhäuschen mit Holzbalkonen, auf denen früher das Stroh von den Roggenfeldern des Tals trocknete. Woher rührt dieser Reichtum? Seit dem 16. Jahrhundert bescherte die Strohindustrie vielen Onsernonesi Wohlstand. Sie kontrollierten die gesamte Produktionskette vom Anbau bis zum Verkauf und reisten mit ihren kunstvoll geflochtenen Taschen und Hüten unter anderem auf Märkte ins Piemont, nach Flandern und Frankfurt. Die Geschichte der Strohmanufaktur, die Techniken der Strohverarbeitung des Valle Onsernone leben im Museo Onsernonese in Loco wieder auf.

Raffiniert geformte Strohhüte, nur noch im Schaukasten? Das fanden einige fingerfertige Damen zu schade. Vor ein paar Jahren gründeten sie den Verein Pagliarte, um die traditionelle Flechtkunst wieder zu beleben und mit modernem Design zu verbinden. Eine Halskette, gefertigt von einer der Kunsthandwerkerinnen, ist eine besondere Erinnerung an einen Besuch im Tessin. Noch ausgefallener der "Kirchturm-Likör" aus Farina Bóna, Grappa, Zucker, den Stefan Früh erfunden hat und der in Intragna erhältlich ist. Farina Bóna, also Mehl aus geröstetem Mais, zu mahlen, hat im Onsernonetal eine lange Tradition - einige Mühlen sind noch in Betrieb, etwa in Loco oder im Ort Vergeletto. Einen kleinen Scherz gibt's obendrauf: Auf der schlanken Flasche klebt ein Schild mit einer Zeichnung des Turms und der Aufschrift: "Campanile Intragna - 65,114 Meter".

© SZ vom 16.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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