Der erste Urlaub allein: Autostop:Ganz schön mitgenommen

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Joseph von Westphalen trampte Anfang der sechziger Jahre durch Frankreich, suchte eine schöne Filmdiva und traf auf zwei Bäcker und eine Gottesanbeterin

Sommerferien 1963 und endlich 18 geworden. Nichts wie raus dem Nest. Frankreich musste es sein. Wegen der französischen Zigaretten, wegen Camus und Sartre. Sartre hatte allein schon mit den Titeln "Der Ekel" und "Im Räderwerk" die Sache auf den Punkt gebracht. Zwar gab es keinen Grund, mit der Welt zu hadern, die Schule war nicht unerträglich, das Verhältnis zum Elternhaus freundlich entspannt.

(Foto: Foto: iStock)

Dennoch gehörte es zum guten Ton, das Leben als abscheuliche Mühle anzusehen. Camus, das hieß: Zigarette im Mund, Kragen hochschlagen, sich fremd fühlen und wissen, dass alles vergeblich ist. Frankreich, das war auch Samuel Beckett: alles ziemlich sinnlos und daher reichlich komisch, Becketts Roman "Murphy" hatte es mir wegen des ersten Satzes angetan: "Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues." Diese verdreht formulierte Plattheit gefiel mir damals. Auf Französisch klang es noch gespreizter.

Frankreich, das war Jeanne Moreau in Louis Malles "Fahrstuhl zum Schafott" und Jean-Paul Belmondo in Godards "Außer Atem", das war auch Rimbaud und Baudelaire: "C'est la mort qui console hélas e qui fait vivre" - Der Tod ist es, der uns tröstet und der uns leben lässt - mein Gott war das richtig und schön gesagt. Ich konnte das Gedicht auswendig. Frankreich, das waren auch Picasso und die Impressionisten und Paris mit dem Louvre.

Frankreich auch wegen Pascale Petit. Die Filmschauspielerin galt Anfang der 60er Jahre als das brünette Gegenstück zu Brigitte Bardot. Für die Schmollblondine schwärmten alle, das war sehr gewöhnlich.

Pascale Petit hingegen war dunkel, geheimnisvoll, katzenhaft. Einen Film mit ihr hatte ich nicht gesehen, ein Titelbild des Stern reichte aus, um mich jahrelang von dieser Frau träumen zu lassen, die damals Anfang zwanzig war - also genau mein Alter, denn wenn man 18 war, kam man sich vor wie dreißig, mit Zigarette im Mund sogar wie der vierzigjährige Camus.

Familie und Freunde waren mehr als genug hinderlich um einen herum. Endlich unbeobachtet tun und lassen können, was man wollte, war daher das Wichtigste. Endlich allein sein. Allein lostigern. Auch das Geld für die Reise musste allein verdient werden. Bloß keine Zuwendungen und Abhängigkeiten. Zwei Wochen auf dem Bau arbeiten reichte aus, um vier Wochen wegzufahren, wenn man trampte und nur im Notfall Geld für Übernachtungen ausgeben würde.

Bemerkenswert, mit welcher Unbekümmertheit einen damals die sonst durchaus liebevollen und besorgten Mütter ziehen ließen. Bei Freunden war das auch so. Die Eltern hielten sich mit flehentlichen Ermahnungen zurück. Dabei war klar, dass man vier Wochen mit sehr wenig Geld ins Ungewisse verschwinden und kein einziges Mal anrufen würde. Eine Postkarte sagte man gnädig zu, und das war fast schon zu viel Verpflichtung.

Auf Sehenswürdigkeiten kam es nicht an. Bern, Lausanne, Genf, Lyon, nichts wie durch und weiter. Rasch entwickelte man seinen eigenen Reiserhythmus: Nachts nie in Städte fahren, denn was soll man da ohne Geld. Man lässt sich am besten noch im Hellen ein paar Kilometer vor einer Stadt absetzen, um ein Wäldchen und einen Schlafplatz zu suchen.

Man baut sich sein Lager, schläft ein, wenn es dunkel wird, wacht daher sehr früh auf, packt sein Zeug zusammen, geht wieder auf die Straße und bekommt im morgendlichen Berufsverkehr sofort ein Auto nach Orange oder Avignon.

Man sucht nicht das Zentrum der Stadt auf, weil Sehenswürdigkeiten gucken spießig und touristisch ist, weil die Läden dort teurer sind und weil sie vermutlich noch gar nicht geöffnet haben. Es ist nämlich erst sieben Uhr in der Früh. Man geht also zu Fuß den Verkehrschildern nach, die zur nächsten Stadt weisen.

Immer am Rand der Städte die hässlichsten Straßen entlang. Man kommt an winzigen Vorstadtläden und schmuddeligen kleinen Bars vorbei.

Härter als Belmondo

Wenn man schlau und vernünftig ist, will man eine einzelne Tomate kaufen und bekommt die geschenkt. Wenn einem großspurig zumute ist, bestellt man sich, es ist jetzt gerade mal halb acht, in einer Bar einen wahnsinnig französischen Pernod und kommt sich härter vor als Belmondo.

Zur Strafe überfällt einen wenig später ein Heißhunger auf Süßigkeiten, den man kindisch findet, aber nicht abwehren kann. An zehn Süßigkeitenautomaten geht man mannhaft vorbei, beim elften wird man schwach und opfert eine kostbare Münze. Entweder kommt nichts raus oder von der Schokolade wird einem schlecht.

Nach ein paar Tagen ist man klüger und weiß, in welchem Ziegenkäse keine Maden wimmeln und wie köstlich er schmeckt und sättigt, wenn man ihn über den Tag verteilt mit Baguette und Tomate isst, und dass ein Glas Rotwein dazu fast nichts kostet und sehr glücklich macht.

Der Weg ist das Ziel, sagen die Erleuchteten und gehen einem mit dieser erhabenen Sicht auf die Nerven. Bei der heute ausgestorbenen Art, sich per Anhalter fortzubewegen, war das schnöde Mitgenommenwerden das Ziel.

Man entwickelt seinen Stil. So war mir das Stehen an einer Autobahnauffahrt zuwider. Hier rivalisierten ein Dutzend Tramper nuttenhaft um die Gunst der sich nähernden Autos, wollten womöglich mit einem ins Gespräch kommen und störten die kostbaren Einsamkeitsgefühle.

Auf kleinen Landstraßen gab es keine Konkurrenten. Man kam nicht so schnell und immer nur stückchenweise vorwärts, konnte aber besser seinen Träumen nachhängen.

Wenn man darauf wartet, dass ein Auto kommt und hält, bleibt einem nichts anderes übrig als zu träumen. Mein in verschiedensten Varianten durchgespielter Dauertagtraum war, von einer Frau wie Pascale Petit, am besten gleich von ihr selbst mitgenommen zu werden. Sie hat die Nase voll von den Heinis im Filmgeschäft und ist begeistert von dem kettenrauchenden Fremden, der ihr die Sinnlosigkeit des Lebens mit Hilfe von Baudelaire- und Beckettzitaten so lässig erklären kann.

In diesem Traum sprach ich fließend französisch, wurde in ihre Filmstarvilla mitgenommen, verließ nach dem Voulez-vous-coucher-avec-moi morgens um fünf die vollbefriedigt schlafende Schönheit - weil Männer ihre Reise nun mal fortsetzen müssen. Aber schon wenig später war sie wieder da mit ihrem Auto: Sie kann nicht ohne mich leben.

Die Sonne Südfrankreichs schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf den verträumten deutschen Jüngling, doch Pascale Petit kam nicht. Besonders grausam, dass ich stattdessen zwei schwule Angebote abzuwehren hatte.

Einmal legte sich die Hand des Fahrers, der zu meiner Freude Gefallen an meinem Baudelairegedicht fand, auf meine Schenkel und er sagte: "Was für hübsche braune Beine." Entsetzlich. Ich bat ihn zu halten und stieg aus, eisig wie eine alte Jungfer. Fortan trug ich auch bei größter Hitze nicht mehr meine kurze Hose und versuchte ein extrem heterosexuelles Gesicht zu machen, wenn ich meinen Kopf in das Innere eines anhaltenden Autos steckte und mit dem Fahrer sprach.

Dennoch geschah es, dass ich in einen Bäckerei-Lieferwagen stieg (Citroën mit Wellblechkarosserie), in dem zwei junge Männer saßen, die alsbald zu erkennen gaben, dass sie gegen ein unzüchtiges Abenteuer mit mir nichts einzuwenden hatten.

Ich rauchte markig und tat, als verstünde ich nicht, worum es ging. Sie gaben nicht auf und erklärten eindringlich: "En France beaucoup de garçons font l'amour avec des garçons." Mit meiner Antwort machte ich mich zum Idioten, hatte aber den Rest der Fahrt meine Ruhe: "En Allemagne c'est interdit", sagte ich.

Die meisten Gespräche liefen ähnlich, und machten mein Französisch nicht besser. Auf die morgendliche Frage, wo ich genächtigt habe, sagte ich "sur l'herbe". Kommentar: O là là. Interessen? Des beaux arts, de littérature. O là là. Dann wurden auf beiden Seiten Namen von Schriftstellern aufgezählt, mit einem "a oui" Kenntnis geheuchelt, und ich versuchte, meine Zitate von Baudelaire loszuwerden.

Beeindrucken konnte ich damit eine verhuschte junge Frau, bei der ich wenig später kläglich versagte: Mit einem lauten Knall platzte mitten auf einer einsamen Staubstraße durch die Provence ein Reifen ihres schon damals uralten Autos und ich war nicht in der Lage, Hand anzulegen und ihr zu helfen.

Ein Monteur musste kommen. Jahre später fiel mir ein, dass die aussah wie Audrey Hepburn, deren Charme ich in meiner Pascale-Petit-Besessenheit nicht bemerkt hatte.

Weil ich gut in der Zeit war, machte ich einen Abstecher nach Spanien und trampte bis Barcelona. Und weil Picasso und Hemingway Stierkämpfe attraktiv fanden, ging ich in eine Arena. Es gefiel mir nicht, erbost aber war ich nicht über die als Großtat gefeierte Schlachterei.

Das habe ich mir später übel genommen: mit schicken Zitaten angeben, aber kein Mitleid mit der geschundenen Kreatur, keine Verachtung für die Popanze von Toreros und die Publikumsmeute. Sensibel und wachsam macht das Interesse für Bilder und Bücher nicht.

Zurück über Paris. Auf dem Weg dahin nahm mich ein Mensch mit, der mich auf eine Art und Weise fragte, ob ich unterwegs am Sonntag in die Kirche ginge, die ich als impertinent empfand. Ich war seit Jahren stolzer Heide und fragte den Typen zurück, ob er Priester sei. Es war der Bischof von Bordeaux in einem normalen Anzug.

Einmal stieg ich in ein Auto, in dem eine Frau saß, die mich Pascale Petit für immer vergessen ließ. Sechs Jahre später, als ich 1969 Eric Rohmers Film "Meine Nacht bei Maud" sah, erinnerte ich mich, dass diese Frau so ausgesehen hatte wie Françoise Fabian.

Leider war sie nicht allein.

Am Steuer saß ihr Mann und hinten ihr Kind. Die ganze Fahrt über war ich schwach vor Neid auf diesen Mann, der Arzt war und auch noch aussah wie eine Mischung aus Camus und Belmondo. Das kleine Kind hinten neben mir schrie und deutete auf einen Strohhalm auf meinem Rucksack. Françoise drehte sich um, nahm den Strohhalm zwischen Daumen und Zeigefinger und lächelte. Der Strohhalm bewegte sich. Es war eine Gottesanbeterin.

Seitdem habe ich eine Schwäche für Frauen, denen es nichts ausmacht, Insekten anzufassen. Und ich ahnte: Eine bürgerliche Existenz mit einem ordentlichen Beruf und Ehefrau und Kind und Auto und Urlaub muss nicht die Hölle sein.

In Paris war das Geld fast alle. Ich lief einen Tag lang kreuz und quer durch die Metropole, das Lächeln von Françoise vor Augen. Am Abend rekonstruierte ich meinen Gang auf dem Stadtplan und stellte fest, dass ich fünfzig Kilometer gelaufen war. Ich erinnere mich noch an den albernen Stolz darüber. Als wäre das ein Sieg. Am nächsten Tag Museen. Das Geld reichte für drei Karten. Die Flusslandschaft von Monet schickte ich nach Hause, wo ich früher als meine Karte ankam.

© SZ vom 2.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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