Bolivien (SZ):Tödlich ist die Nacht

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Santa Ana del Yacuma im bolivianischen Tiefland - eine Geschichte über schöne Frauen, ein wildes Fest und das jähe Ende eines Kleinstadt-Casanovas

Barbara Liepert

(SZ vom 28.11.2000) - Es wird früh dunkel in Santa Ana, aber die Nacht, in der Gustavo Aizar starb, war noch ein bisschen dunkler als alle voran gegangenen Nächte. Und sie war laut, denn die Fiesta de la Santa Ana del Yacuma hatte eben erst begonnen: Die Prozession und der Stierkampf standen noch aus, und es gab Geld, viel Geld, bolivianos für die movima, wie die Leute in dieser Gegend heißen.

Wer in der Arena stirbt, kommt in den Himmel - sagen die Leute in Santa Ana. (Foto: Foto: Liepert)

Schüsse in der Nacht

Sie nannten ihn el polaco. Als er starb, kam der Wind vom Fluss und dämpfte die ersten beiden Schüsse. Die Hütchenspieler in den Hütten, die flanierende Haute Volée, die biertrunkenen campesinos am Hauptplatz - sie alle haben den Mord an Gustavo Aizar nicht bemerkt. Erst als noch einmal zwei schnelle und etwas später ein verlorener, dritter Schuss in die Nacht platzten, wurden ein paar Leute unruhig. Allen voran die Militärpolizisten, die bis dahin nur den Eingang der Bank und der Bürgermeisterei mit ihrer natogrünen Anwesenheit dekorierten. Was war das? Die wilden Zeiten in Santa Ana waren doch eigentlich vorbei.

Damals, Anfang der achtziger Jahre, war Santa Ana ein ungemütlicher Ort. Es gab kaum geteerte Straßen, und es gab außerdem noch den Drogenbaron Don Roberto Suárez Gomez und Koka und alles, was von dieser unheiligen Koalition angezogen wurde: kolumbianische Drogenkuriere, billige Dollars und teure Dirnen. Es war auch die Zeit, in der der lateinamerikanische Telenovela-Jet-Set in Cessnas einflog, um auf ausgedehnten Haciendas seine Orgien zu feiern.

Kampf gegen die Drogenbarone

Viele flüchteten damals - oder wurden weggeschickt. Felipe Hernandez, heute Rechtsanwalt, war gerade 16 Jahre alt geworden, als seine Eltern ihn fortschickten aus Santa Ana, weil es zu gefährlich wurde, nach Santa Cruz, wo er studieren sollte. Seine Heimatstadt war für ihn fortan tabu - was eigentlich nicht schlimm ist, denn in Santa Ana gibt es Monate, da fällt vor allem den jungen Menschen der Himmel auf den Kopf: es regnet wochenlang und die 12.000-Einwohnerstadt verwandelt sich in eine Art Insel im Amazonasbecken.

Mitte der achtziger Jahre kamen dann die Amerikaner mit der Drug Enforcement Administration (DEA); es gab Krieg, war on drugs, wie das amerikanische Außenministerium das immer noch nennt. Die Leute von der DEA zündeten Hangars an und durchsuchten jede Cessna, jeden einzelnen der sogenannten Fleischbomber, die tote Kühe in die Kühlhallen von Santa Cruz flogen. Als der Drogenbaron ins Gefängnis kam und die DEA - bei der bald nur noch Schläger in Sold standen - abzog, wurde es ruhiger.

Bürgermeister mit Cowboystiefeln und Zahnspange

Erst mit Gustavo Humberto Antelo Chavez, der zu Anzügen Cowboystiefel und Zahnspange trägt, scheint sich etwas in der Stadt zu ändern. Anfang des Jahres neu ins Bürgermeisteramt gewählt, ließ der 33-jährige, schmächtige Architekt erst einmal die Straßen und Plätze säubern und begrünen - das schafft Arbeitsplätze und Parks, das ist populär. Ordnung heißt Ruhe, aber Ruhe ist nicht unbedingt gut für einen Ort, der mitten in der bolivianischen Pampa liegt, in einem Meer von Termitenhügeln auf ausgezehrtem Boden. Die Gegend ist dünn besiedelt - und schlecht versorgt: Ein paar hundert Dörfer im departamento Beni, einem Gebiet von der Größe der alten Bundesrepublik, haben weder Abwassersysteme noch ordentliche Brunnen. Arbeit gibt es nur auf den Farmen, und Alternativen gibt es nicht. Die meisten Leute auf dem Land leben von dem, was auf den Feldern wächst oder auf dem Hof herumgackert.

Einmal im Jahr liegt über Santa Ana del Yacuma eine Art Ausnahmezustand: Dann spielt das Geld, das es eigentlich gar nicht gibt, keine Rolle mehr. Der Grund, die religiöse Feier, wird von allerlei offiziellen Anlässen flankiert. Die Sekretärin des Bürgermeisters legt eine Schärpe um, mit der sie ein bisschen so aussieht wie ein lila Osterei mit Sonnenbrand. Die Latrinenbauer der Europäischen Union, ein paar Gesandte der kanadischen Botschaft - sie alle bekommen eine Urkunde überreicht und einen langen Monolog des Bürgermeisters zu hören: Er dankt für die neue Straße, die auch gleich als Damm fungiert, für das Krankenhaus, das nun endlich auch einen Operationssaal bekommen wird. Der Mann, der el polaco erschoss, musste noch schwer verwundet in ein Krankenhaus nach Cochabamba ausgeflogen werden. Dort starb er in den Morgenstunden, wie der Bürgermeister beim Frühstück erfahren hat. Unter surrenden Ventilatoren ehrt dieser, wo er schon mal da steht, auch drei europäische Touristen, die sich aus Versehen in die Gegend verirrt haben. Nur so. Man muss ja Anreize schaffen. Wenn es keine Fabrik in Santa Ana gibt und auch niemanden, der hier irgendetwas produzieren möchte, könnten Touristen eine Alternative sein. Krokodile und seltene Vögel gibt es genug hier, ein paar Flüsse, auf denen man herumschippern kann und ein neues Hotel mit vier Sternen und Pool. Der Bürgermeister denkt jetzt darüber nach, Postkarten drucken zu lassen.

Sparen für das Fest der Heiligen Anna

Auf der Straße in der Mittagshitze spielen die Blasorchester. Die dicken Mamas drehen sich im Kreis, schnaufend, das Tanzen ist nicht mehr einfach. Ihre Männer und Söhne sind als Stiere verkleidet. Pickups und Motoräder blasen Blei in die Luft, die Pferde sind scharf gezäumt, so dass ihnen der Schaum aus dem Maul läuft. Zimperlich darf man in Santa Ana auch als Pferd nicht sein. Zu Tausenden kommen sie wegen der heiligen Ana. Das Fest in der Woche um den 26. Juli scheint eine Explosion zu sein, ein Ereignis, auf das die Menschen ein Jahr lang gewartet haben, für das sie seit Monaten sparen und bei dem sie sich auf Monate verschulden. Bier ist teuer und so gibt es alcol, nach Lösungsmittel riechendes, pinkfarbenes Wasser und die milchige leche de tigre - so in etwa muss destillierter Tigeratem riechen. Nicht sehr angenehm.

Zur Gala im Club Social sind alle gekommen, die auf der Gästeliste standen. Das sind vor allem die, die wenige Kinder, aber viele Rinder haben. In einem weiß getünchten Kolonialgebäude findet alljährlich der Opernball von Santa Ana, der Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens statt. Selbstverständlich ist der Bürgermeister da und die amtierende "Miss Viehzucht" auch. Ein Mädchen mit hüftlangem schwarzen Haar, das wenige Tage zuvor im Cowgirl-Höschen die landwirtschaftlichen Fragen des Moderators korrekt beantwortet hat. Und natürlich sitzen die Großgrundbesitzer der Gegend da, mit ihren Frauen, die sich, was ihre Garderobe betrifft, noch immer an den Ewings aus "Dallas" orientieren: Hohe Absätze, nackte Schultern und eine bemerkenswert hohe Anzahl von Zweireihern schieben sich durch den schlecht beleuchteten Hof.

Blonde Latinos schmachten im Fernsehen

Nur ein paar Menschen feiern nicht mit. Die Witwen des polaco sitzen wahrscheinlich zu Hause und sehen Beni-Vision, das Regionalfernsehen. Man weiß nicht, wieviele Frauen er zurücklässt - aber das ist ja auch der Grund seines Todes. Im Ganzen erinnert die Geschichte an die Telenovelas, die sie im Fernsehen zeigen. Dort versteht man allerdings in drei Minuten, worum es seit 60 Folgen geht; wer gut, wer böse ist und vor allem: wer mit wem ein Verhältnis hat. In Santa Ana dauert das für die Betrogenen erfahrungsgemäß etwas länger. "Liebst du mich noch?" fragt die blonde Latina im Abendfernsehen in die Tiefe eines beigen Sofas hinein. "Ich muss dich vergessen", sagt der befragte, ebenso blonde Latino. Um der Szene auch ohne Ton den nötigen Nachdruck zu verleihen, umklammert dieser sein Mobiltelefon mit beiden Händen, und die Stirn sinkt genau in dem Moment auf seine Fäuste, in der die Latina in die Knie geht. Pero por queeeee, mi amor? Warum nur? Tja, Pech gehabt, Süße! Dumm auch für den Zuschauer: Schnitt. Ende der Seifenoper und Werbung.

Wer in Santa Ana fern sieht, bekommt Reklame für Dinge, die man hier auch wirklich brauchen kann: Landmaschinen zum Beispiel. Da es keine Zeitung gibt - nur zum Fest ein Anzeigenblättchen - kommen die Trauerannoncen, informes necrologicos, in Bild und Ton zur Gemeinde. Lustig sieht er auf dem Farbfoto aus, der junge Mann mit dem Namen Aizar Gustavo. Ein netter Schwiegersohn eigentlich, der da im Garten unter der Kinderschaukel lächelt. Nur hat er sich wohl eine Schwiegermutter zu viel angelacht. Sieben Frauen soll er gehabt haben, sagen die Leute in Santa Ana, und eine reiche, alte Witwe sei auch darunter gewesen. Eine offene Rechnung aus dem Drogenhandel war es nicht, denn "die hätte el polaco bezahlt, er war ja nicht dumm", sagen die Leute. Er war schön, und er war charmant. Und das hat ihm wohl das Genick gebrochen, so sagen die Leute.

Feiern bis zum Umfallen

Dabei ist der Tod eigentlich etwas völlig Normales, wenn die heilige Ana gefeiert wird: Mindestens sieben Tage lang besaufen sich die movima, solange sie ein Gefäß halten können, campesinos torkeln im Kreis, eine aufgeladene Menge stürzt sich auf einen Stier. Im corral, der Arena - einem windigen Gerüst aus Bauzaunlatten - gibt es keine soziale Klasse mehr: wer drin ist, könnte vom Stier jederzeit zertrampelt werden. Jedes Jahr sterben einer oder zwei, manchmal auch mehr an den Nebenwirkungen der Fiesta. Wer im Ring stirbt - und das erklärt vielleicht den Furor, mit der die Menschen tanzen, sich umarmen, um sich Minuten später wieder zu verprügeln, und die ungebändigte Wut, mit der sie auf die Stiere einschlagen - wer also im Ring zu Tode kommt, den nimmt die heilige Anna mit in den Himmel. "Der beste Tod, der dir passieren kann", sagen die Leute in Santa Ana.

Der Eindruck, dass die Menschen es hier darauf anlegen, umgebracht zu werden, erhärtet sich, je länger die Fiesta dauert: Die Augenringe des Bürgermeisters sind bereits aschenbechergroß, auf die glänzenden Gewänder der Mamas hat sich ein brauner Staubschleier gelegt. Wieder wird ein weißer Stier, an Hals und Hinterteil verknotet, in die Arena gezerrt. Applaus. An die Balustrade gedrückt, wird er aufgeschnürt und frei gelassen. Die Menge johlt. Neben 500 Menschen steht der Stier im Staub, schnaubt in die Abendsonne und lässt es geschehen: Wie sie besoffen seinen Schwanz packen, ihn knicken, auf seinen Rücken klettern und mit roten Stofffetzen auf ihn einschlagen. Noch vier weitere Stiere müssen in dieser Abenddämmerung in den Ring, und nach ein paar Adrenalinattacken merken auch sie, dass es schlau ist, sich tot zu stellen. Denn dann wenden sich die Leute anderen Vergügungen zu, zum Beispiel schönen Frauen.

Küsschen von Miss Bolivien

Die allerschönste Frau Boliviens, die amtierende Senorita Bolivia, erklimmt die Ehrentribüne: Es wird still und der Bürgermeister springt auf, reckt sich hoch zur Miss Bolivien und lässt sich von ihr küssen. Applaus, ein Tam-Tam vom Blechorchester, und die Fiesta geht in die Endrunde. Damit sich der Bürgermeister in Ruhe von Benivision interviewen lassen kann, wirft er Bierdosen in die Menge. Die Miss-Mädchen stehen neben ihm, ein schönes Bild. Und weil man als schöne Frau nicht zimperlich sein darf, steigt die Miss Bolivien perfekt geschminkt in den Ring und verlässt ihn völlig verstaubt nach einem Zwei-Minuten-Tänzchen mit dem Bürgermeister. Auch Mister Bolivien hat sich eine Botschaft für die Presse ausgedacht. "Die Liebe zu den Menschen", sagt er, "das ist es, um was es mir geht. Und eigentlich würde ich gerne Präsident werden."

Am Abend treffen sich die selben Leute in der betonierten Basketball-Arena von Santa Ana wieder: Die Bewerberinnen müssen jetzt zeigen, welche den besten Catwalk in Abendkleid, Bikini und traje tipico hinlegt. Ob die Trachten nun typisch sind, ist offensichtlich nebensächlich - die meisten Kostüme sind vor allem knapp und das der Miss Litoral sogar traurig: mit Plastikmöwe auf der Schulter, glitzernden Muscheln auf den Brüsten, in einem weiten Rock, der eine Landkarte aus dem 19. Jahrhundert zeigt, gleitet sie über den Laufsteg. Das nationale Trauma, im Pazifik-Krieg den Meerzugang an Chile verloren zu haben, lebt weiter am Leib der Miss Litoral.

Am nächsten Morgen reisen die schönen jungen Frauen weiter. Das Fest neigt sich dem Ende zu, ein Stier wird geschlachtet, sein Fleisch verteilt. Längst haben die Menschen kein Geld mehr für Bier, nicht mal mehr für leche de tigre. Und auch keine Kraft mehr zum Tanzen. Es war eine friedliche Fiesta, sagen die Leute in Santa Ana del Yacuma - keiner kam um in der Arena, und es starb auch keiner durch eine Messerstecherei. Nur el polaco ist jetzt tot. Wie viele Kinder er hinterlässt, wissen nur ein paar Frauen. Auch sein Mörder, wahrscheinlich angestiftet von einer der Ex-Frauen, ist gestorben. Aber das, so sagen die Leute, lag nicht an der Fiesta. Das alles lag an den schönen Frauen.

INFORMATIONEN

Bolivien-Rundreisen, die auch ins Amazonasbecken führen, organisieren: Dorado Latin Tours, Albisstr. 33, CH-8134 Adliswil, Tel 00 41 17/12 60-00, Fax -06, E-Mail: info@dorado-latintours.ch, oder Knecht Reisen, Rohrerstr. 100, CH-5001 Aarau, Tel 00 41 62/83 47-1 21, Fax -100. In Santa Ana entspricht nur das Hotel Mamore europäischen Standards: http://www.loslagos-mamore.com.

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