Bikerevier :Schön steil

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Das Fassatal ist eines der besten Reviere für Mountainbiker in den Alpen. Bei einigen Touren lohnt es sich, den Lift nach oben zu nehmen. Deshalb lernt man sogar, die belächelten E-Fahrräder zu lieben.

Von Günter Kast

Bikeguide Andrea erklärt jetzt mal was ganz Wichtiges: "Wenn dein Aperol Spritz richtig gut werden soll, musst du das richtige Mischungsverhältnis kennen." Mit einer Bike-Tour sei es genauso: Man braucht den richtigen Mix aus Erholung und Anstrengung, aus leichten und kniffligen Wegen. Ah, capito! Andrea will erklären, warum es beim Giro rund um die Latemargruppe eine gute Idee ist, in Predazzo mitsamt den Bikes in die Gondel zu steigen und sich zum Passo Feudo "hinaufschießen" zu lassen. Würde man all die Höhenmeter mit Muskelkraft erklimmen, wäre das kein guter Mix, denn auch mit Aufstiegshilfe werde man noch richtig ins Schwitzen kommen.

Freie Fahrt für freie Radler: Mountainbiker dürfen auf so gut wie alle Trails

Andreas Aperitif ist perfekt gemixt. Leicht zu fahrende Trails mit spektakulären Blicken auf die Felsnadeln der Latemargruppe wechseln sich mit anspruchsvollen Passagen im Wald nahe des Karerpasses ab. Mal sind die Pfade in Jahrhunderten gewachsen, mal von Menschenhand geschaffen, wie zum Beispiel im Skigebiet Carezza zu Füßen der Rosengartengruppe. Und dann ist da noch ein Juwel: Umrahmt von einem der schönsten Fichtenwälder Europas mit 300 Jahre alten Baumriesen funkelt wie ein tibetischer Türkis der Karersee. Selbst jetzt, zur Mittagszeit, wenn sich Hunderte Stöckelschuh-Touristen auf dem Uferweg drängen, spürt man, dass dies ein magischer Ort ist. Die Einheimischen nennen ihn auf Ladinisch "Lec de ergobando", Regenbogensee.

Andrea, selbst Ladiner, kennt die alten Sagen, die sich um den See ranken. Und er ist stolz auf das reiche kulturelle Erbe seiner Heimat. Aber er ist auch stolz auf die Bike-Destination Fassatal, die sich über die Jahre zu einem der besten Reviere der Alpen entwickelt hat. Das hat mehrere Gründe. Zum einen hat sich die rechtliche Situation auf den Wegen geändert. Bis 2015 galt im Trentino das Gesetz, dass Trails, die mehr als 20 Prozent Gefälle aufweisen oder die schmäler als ein quergestelltes Rad sind, nicht befahren werden dürfen, sofern ein Schild dies nicht explizit erlaubt. Dann erkannten die Verantwortlichen, dass die Regel viele Biker vergrault. Sie stellten das Gesetz einfach auf den Kopf: Alle Trails sind seither auch für Mountainbiker offen - ausgenommen sind nur einige von Wanderern stark frequentierte Panoramarouten wie der Bindelweg oder der Friedrich-August-Weg zwischen Sellajoch und Plattkofelhütte.

Freie Fahrt für freie Biker - das war schon mal ein guter Anfang. Hinzu kam das spektakuläre Panorama der Dolomiten, mit Touren-Optionen in allen vier Himmelsrichtungen: gestern die Sella Ronda, heute eine Tour entlang des Rosengartens, morgen ein Ausflug zum Passo San Pellegrino oder zur Marmolata. Hinzu kommt, dass die Touristiker früh eine Mountainbike-freundliche Infrastruktur schufen. Der Bikepark am Belvedere oberhalb von Canazei war einer der ersten der Dolomiten, er wurde bereits 2006 eröffnet. Permanent kommen neue Routen und Trails hinzu, so dass auch Wiederholer sich hier nicht langweilen müssen. Der produktive Wettstreit um Urlaubsgäste zwischen dem Fassatal und seinen Nachbarn Grödnertal, Alta Badia, Eggental und Arabba sorgt dafür, dass vieles hier in wenigen Monaten umgesetzt wird, was andernorts Jahre dauert. Also "tutto bene" im Fassatal - wenn nur die Anstiege in den Dolomiten nicht immer so furchtbar steil und mit kindskopfgroßen Steinen übersät wären! So manch einer hat hier schon Flüche gen Himmel geschickt.

Daher schlägt Andrea vor, die Runde am nächsten Tag mit dem E-Bike anzugehen. Einmal mehr geht es bequem mit der Gondel von Campitello nach oben. "Denkt an den Aperol Spritz. Die Mischung macht's", schärft er der Gruppe ein. Mit dem Stromer ist die Tour ein wahrer Genuss. Die Rampen an der Steinernen Stadt? Da bleibt noch viel Zeit und Muße, den Murmeltieren beim Sonnenbaden zuzusehen. Den E-Antrieb küssen möchte man bei der supersteilen Auffahrt von der Seiser Alm zur Plattkofelhütte. Ohne Strom wäre das für die meisten eine zähe Schiebepassage. So aber kommt man entspannt an der Sonnenterrasse an und hat tatsächlich noch Energie, Glas und Besteck zu halten. Die Bresaola mit Pfifferlingen, die hausgemachten, mit Steinpilzen gefüllten Kartoffeltaschen, die Pasta - alles schmeckt einfach wunderbar. Nur Wein ist tabu. "Wir müssen noch fahren!", warnt Andrea. Tatsächlich ist es ein Vorteil, bei der steilen Abfahrt ins Val Duron keinen Alkohol im Blut zu haben - volle Konzentration ist hier gefragt. Weil das Tal, eines der wenigen ohne Liftanlagen im weiten Umkreis, so idyllisch daliegt und man mit den Stromern zügig unterwegs ist, gibt's noch eine Zugabe bis zum Talschluss: Andrea freundet sich mit den schottischen Hochlandrindern an, die hier weiden. Genau noch rechtzeitig, bevor ein Gewitter losbricht, ist die Verleihstation in Canazei erreicht. Ohne Akku hätte das sicher zwei Stunden länger gedauert. Und alle wären nass geworden.

Bei der Ankunft zeigt die Batterie noch 52 Prozent Speicher an. "Wir hätten die Runde sogar zweimal fahren können, so sparsam und eifrig wart ihr beim Pedalieren." Ein Lob aus Andreas Mund, jetzt fehlt nur noch - genau: der Aperol Spritz.

© SZ vom 20.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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