Bergwandern:Wo wir gehen, ist wie wir sind

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Auch die Streckenführung in den Bergen unterliegt neuen Moden: Wie das System der Wege die Orientierung innerhalb der Gesellschaft spiegelt.

Wieland Elferding

Am Septimerpass in Graubünden gibt es tief in Steinplatten eingekerbte Spuren, zu denen Menschen pilgern, um sich das Römische Reich vorzustellen. Es ist schwer, sich auszumalen, wie mühevoll es gewesen sein muss, einen Wagen hier hinaufzubringen, um Waren und Waffen in die periphere Provinz eines Weltreiches zu führen.

(Foto: Foto: ddp)

Jede Gesellschaft bringt ihre typischen Wege hervor. Mehr noch: Die Wegetopographie einer Gesellschaft bestimmt über ihre Zugänglichkeit, über Auswege, Übergänge und, nicht zuletzt, über die Möglichkeit von Prozessionen zu den einen oder anderen Heiligtümern.

Die scheinbar profanen Wege waren gut englisch geschwungen, damit ihr Verlauf und die Landschaft sich möglichst entdeckerisch, mit eingebauten Verzögerungen und Überraschungen erschließen sollten. Dagegen wird neuerdings in städtische Ökolandschaftsparks die schnurgerade Strecke eingebaut. Doch nirgendwo ist, abgesehen von städtischen Straßennetzen, das Wegewesen so ausgetüftelt wie in den Bergen. Man kennt das: markierte Wege, bitte nicht verlassen; schwere, mittlere, leichte Wege; Wege, die eher Steige oder gar nur Routen sind; Umwege, Abwege, Erstbegehungen. Ein System von Empfehlungen, Geboten und Verboten.

Ständiges Thema für Entscheidungen

Wege sind hier ein ständiges Thema für Entscheidungen. Dabei kümmern sich Heerscharen von freiwilligen und unfreiwilligen Helfern um den rechten Weg der Berggeher. Auf Tagungen der alpinen Vereine beanspruchen die Verhandlungen um die Referate "Hütten und Wege" die meiste Zeit, weil sie auch das meiste Geld verbrauchen. Auf ein und demselben Weg treffen sich vielfältige Interessen und Zuständigkeiten, angefangen von den Almgemeinschaften mit ihren Weide- und Wegerechten über die Gemeinden mit ihren Tourismusverbänden bis hin zu den Schutzhütten, deren Pächter Anteil und Interesse an Bau und Pflege der Zugangswege haben.

Wie war es doch vordem mit den Wegen bequem. Berggeher schlossen ein geheimes, aber bewährtes Bündnis mit denjenigen, die arbeitshalber die Wege brauchten. Almerer, die sich selbst und ihre Tiere hinauf- und hinabbringen mussten, sorgten schon aus Eigeninteresse dafür, dass die Wege in Schuss waren. Hüttenpächter waren darauf bedacht, dass die Logistik ihrer Hütte möglichst reibungslos über den Hüttensteig abgewickelt werden konnte. Stolperer konnten viel Geld kosten, weil sie gelegentlich den Verlust der Last oder gar eines Tragtieres mit sich brachten, also wurden die Hindernisse selbstverständlich und regelmäßig aus dem Weg geräumt.

Diese Verhältnisse, in denen die Pflege der Wege sich wie eine mühsame, aber doch notwendige Beigabe zur Nutzung der Landschaft ergab, sind wohl ein für allemal untergegangen. Viele markierte Standardwege in den Alpen sind längst zu Schuttreißen und Sturzbächen verkommen.

Gewiss, nach wie vor gibt es Zuständigkeiten. Die alpinen Vereine, die Gemeinden, die Genossenschaften verpflichten sich zur Instandhaltung. Dabei ist es nicht so einfach, ehemals aus der Produktion des menschlichen Lebens erwachsene Aufgaben an Freizeitinstanzen zu übertragen. Doch wenn das Geld knapp wird, lässt der Enthusiasmus nach und die Wege verkommen.

Wer den Südanstieg zur Benediktenwand von Petern in der Jachenau auswählt, hat eine gute Stunde festgewalzten Almfahrweg unter den Füßen. Wer die Alternative über das Laintal wählt, dem geht es auch nicht besser. Und beim Weg zum Langecksattel kommen einem im Aufstieg die weit ausladenden Kehren überflüssig vor.

Wer mutet einem das zu? Eine Antwort geben die schwer schwitzend vorbeiziehenden Radler, die auf einen Fahrweg angewiesen sind. Doch macht man es sich mit vorschnellen Schuldzuweisungen zu leicht. Schließlich nutzen die Moutainbiker nur den Fahrweg, den die Almerer und Waldbauern für ihre Zwecke, vermutlich mit EU- wie mit Landesmitteln, angelegt haben, damit sie mit schweren Fahrzeugen hineinfahren können. Ob wohl die paar Liter Milch, die auf den Almen der Südseite des großen Berges produziert werden, und die paar Baumstämme, die sie herausziehen, die Kosten der vielen Almstraßen je eingespielt haben? Natürlich nicht, antworten die Landschaftsökologen und verweisen listig darauf, dass die Bergbauern ihre landschaftspflegerischen Dienste ohne die breite, harte Zugangsstraße schwerlich anbieten würden.

Doch die Zeiten haben längst einen anderen Weg eingeschlagen. Der Zwiesel bei Wackersberg, von der Waldherralm aus bestiegen, ist immer ein guter Tipp, wenn sonst nichts mehr geht. Viele schätzen den durch die Randlage weiten Blick bis zum Großvenediger in den Hohen Tauern. Seit zwei Jahren überquert der irritierte Wanderer oberhalb der herrlichen, dem Isarwinkel zugewandten Wiese eine breite, kiesbestreute Trasse, die das gesamte Massiv umrundet.

Und wozu das alles? - Die Antwort geben jene dahinhastenden Gymnasten, aufgehängt an zwei offensichtlich viel zu langen Stöcken, die einerseits schräg nach unten weisend hinter dem Körper her geschleift werden. Offensichtlich hat diese Gesellschaft genügend Ressourcen, um Nordic-Walking-Autobahnen in die Berge zu sprengen, für die paar Ein-Euro-Malocher zum Steineklauben und Wegesäubern fehlt jedoch das Geld.

Auf dem Weg zur Benediktenwand verläßt man schon in der ersten leichten Rechtskurve bei Eintritt in den Hochwald die Straße und begibt sich auf den alten Almsteig, der sich gangbar hinaufwindet bis zum Sattel, nur ab und an wieder auf die Straße gerät. Wie angenehm es sich auf dem Nadelpolster geht, wie zügig, so dass man fast eine halbe Stunde einsparen kann. Auf der Suche nach aufgelassenen Steigen, empfiehlt sich das Studium veralteter Karten. Historisches Gehen, so könnte man das nennen, birgt das Risiko der Sackgasse. Aber historisches Gehen ist naturnahes Gehen.

Das Wegesystem, ja das Wegeverständnis einer Gesellschaft hängt eng mit deren Orientierung in der Wirklichkeit zusammen. Berggeher registrieren, dass in verschiedenen europäischen Landschaften die schönen alten Holzschilder, die ein Stück Lokalkolorit bedeuteten, durch jene gelben EU-Einheitsschilder ersetzt werden. Da ist zu lesen, zum Gipfel seien es noch "2:30 h". Eine Viertelstunde Wegs weiter liest der verblüffte Wanderer auf einem weiteren dieser Uniformschilder, es seien zum Gipfel "2:30 h". Wie schnell verfällt doch die Moral des Schilderlesens und wie rasch wendet sich der Sinn hin zum eigenen Orientierungssinn.

Entfernungen stellen sich verschieden dar, je nach Luftfeuchtigkeit, Dunst oder Klarheit der Luft. Perspektivische Verkürzungen des Geländes je nach Gefälle sind bei der Abschätzung von Wegezeiten zu berücksichtigen. Alte und neue Viehdriften weisen den Weg. Erfahrungswerte zählen wieder, eigene und die der Gesinnungsgenossen am Berg.

Nicht, dass man auf Wege klaglos pfeifen würde. Wege waren Unterbrechungen und Gliederungen einer Landschaft, in die wir nicht selbstverständlich hineingehören. Sie gaben aber auch Richtungen an, in denen Bahn gebrochen wurde in der Wildnis, wie es für Tierpfade und Wildwechsel gilt. Sind die Adern der Landschaft einmal verödet, tritt ein Zustand der Leblosigkeit ein und gleichzeitig kündigt sich eine Phase der Wiederbelebung an.

Sehen ohne zu schauen

Unbemerkt hat sich ein Widerspruch aufgebaut zwischen den Karten im Rucksack und dem GPS-Navigator zur Hand. Die Karten kennen noch die Differenz zwischen gangbar und ungangbar, zwischen Weg und Wildnis. Per GPS ist jedoch jeder Punkt in der Landschaft gleichermaßen zu vermessen und anzusteuern. So projiziert das GPS-Raster die Illusion der gleichen Zugänglichkeit jedes dieser Punkte auf die Erdoberfläche. Nach dieser Logik verschwindet das Wegenetz, das alte wie das neue.

Müsste hier nicht die alte Almhütte stehen? Durchs Dickicht der letzten Jahrzehnte ist sie kaum auszumachen. Ein Satellitenbild würde sofort Klarheit schaffen. Virtuell geht es leichter. So entsteht eine neue Art der Orientierung, direkter, präziser als je zuvor. Der Mensch hat sich, als wollte er den verfallenen oder unbegehbaren Wegen eine endgültige Antwort erteilen, längst über die Erde erhoben, wenn auch nicht zu Fuß, so doch mit einem allmächtigen Auge, das alles sieht, ohne doch je schauen zu können.

© SZ vom 5.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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