Autoreise in Europa:Der wilde Osten

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Hier hat die Missachtung der Verkehrsregeln Methode und Geschichte: Warum Polens Autofahrer so aggressiv sind und welche Rolle dabei dicke Autos spielen.

Thomas Urban

Die Witze, die in Deutschland Allgemeingut sind und an der Weichsel für heftige Empörung sorgen, scheinen es zu belegen: Bei den Stichworten Auto und Polen denken viele, vielleicht gar die meisten Deutschen an "Mafia".

Pferdefuhrwerke blockieren in Polen noch manchmal die Straßen. Beim Überholen gilt: Der Schnellste gewinnt. (Foto: Foto: ddp)

Dabei ist der Autoklau schon seit vielen Jahren nicht mehr das Hauptproblem der Polen. Vielmehr ist es die Aggressivität am Steuer. Entsprechend hoch ist die Zahl der Unfallopfer. Polen hat eine viermal so hohe Rate an Verkehrstoten wie die Bundesrepublik.

Nach Meinung von Polizeiexperten ist dabei der Gipfelpunkt noch längst nicht erreicht, weil immer mehr schnellere und stärkere Autos auch in Polen zugelassen werden, während die alten Ostblock-Mittelklassegurken Warszawa und Wolga eine absolute Rarität geworden ist - ebenso wie die Pferdefuhrwerke.

Dagegen können die polnischen Behörden beim Kampf gegen Autoschieber beachtliche Erfolge vermelden - und haben dafür sogar wiederholt viel Lob von den deutschen Versicherungen bekommen.

Drängeln statt Diebstahl

Jedenfalls müssen sich die Mercedes-, BMW-, Audi-, VW-, Volvo- oder Jeep-Fahrer, die längst zu Zehntausenden über Polens Straßen rollen, heute nicht mehr über Geschichten ärgern, die in den neunziger Jahren von den deutschen Medien zu einem großen Horrorpanorama aufgebauscht worden sind, obwohl es sich damals um Einzelfälle gehandelt hatte: dass teure Westwagen am helllichten Tag gestoppt und die Fahrer mit Waffengewalt zum Aussteigen gezwungen werden.

Längst ist auch kein Massenphänomen mehr, dass sich morgens bei der Polizei genervte Autobesitzer drängeln, die Diebstahlsanzeigen erstatten wollen. Überdies sind Polens Straßen keine Schlaglochpisten mehr, die man am besten mit einem Traktor befährt. Fast das ganze Fernstraßennetz wurde, überwiegend mit EU-Geld, in den letzten Jahren gründlich überholt.

Und doch ist es immer noch kein Vergnügen, in Polen Auto zu fahren. Dies liegt zunächst an dem sehr weitmaschigen Straßennetz. Bis 1989 gab es nur eine einzige Autobahn: die von Breslau (Wroclaw) an die DDR-Grenze, die alte "Hitler-Autobahn", wie sie auch in Polen hieß.

In den folgenden anderthalb Jahrzehnten sind nur 300 Kilometer hinzugekommen. Und dies vor allem aus zwei politischen Gründen. Zum einen wollte die neue Führung besonders demokratisch sein und erschwerte die Enteignung von Grundbesitzern, was während der kommunistischen Herrschaft nur eine Formsache war. Davon profitierten vor allem Bauern, die auf diese Weise auch die Preise hochtreiben konnten.

Mit Vollgas in den Stau

Zum anderen verzögerten die letzten polnischen Regierungen geschickt den Autobahnbau bis zum EU-Beitritt 2004, weil sie auf Brüsseler Mittel spekulierten. Die Rechnung scheint aufzugehen, denn seitdem wird kräftig gebaut, auch entstehen immer mehr Ortsumgehungen.

Aber derzeit müssen sich die Autofahrer noch durch viele Städte quälen, in erster Linie Warschau, das als einzige Millionenstadt in der EU weder Autobahnanschluss, noch Stadtumgehung hat. Dies bedeutet, dass man von morgens sieben bis neun Uhr sowie zwischen 16 und 19Uhr in gigantischen Staus steckt.

Dies wird zum Glück von den Autofahrern ohne große Aufregung hingenommen, normalerweise gibt es keine Hupkonzerte, selbst wenn alles steht. Dafür aber entladen sich die im Stau noch unterdrückten Aggressionen eines Teils der Autobesitzer umso heftiger, wenn sie denn freie Fahrt haben. Für diese Gruppe gilt dann die Devise: Vollgas, wo immer es geht.

Da gilt keine Geschwindigkeitsbegrenzung, keine durchgezogene Linie. So ist denn auch überhöhte Geschwindigkeit mit Abstand die häufigste Unfallursache in Polen. Besonders tragisch dabei: die große Zahl der in geschlossenen Ortschaften überfahrenen Fußgänger, auch auf Zebrastreifen.

Polnische Soziologen sehen zwei Ursachen für die verbreitete Raserei: eine allgemeine starke Gereiztheit in der Gesellschaft, die der Übergang zur Marktwirtschaft auch psychisch in höchstem Maße belastet, sowie das Selbstverständnis von Männern, die sich in der Tradition der schneidigen Ulanen sehen, der Helden vieler Romane und der Geschichtsbücher.

Sie leben gefährlich: Ein Fuhrmann und sein Pferd auf einer Straße in Polen. (Foto: Foto: AP)

Der ersten Ursache, der leicht in Aggression umschlagenden Gereiztheit, hat die polnische Ausgabe des Nachrichtenmagazins Newsweek erst kürzlich eine Titelgeschichte gewidmet. Darin waren unter anderem die Ergebnisse einer breit angelegten Studie aufgeführt.

Pöbeln und Fluchen

Demnach hören 84 Prozent der Befragten oft Flüche, 49 Prozent fühlen sich starkem Berufsstress ausgesetzt, 23 Prozent geben zu, oft Mitmenschen anzupöbeln. Ein Fünftel der Verheirateten gibt an, bei ihnen zu Hause herrsche "Ehekrieg", fünf Prozent sprechen gar von "Ehehölle".

Diese Grundstimmung ergänzt nach Meinung von Soziologen bei vielen Männern in fataler Weise das traditionelle Rollenbild eines allzeit streit- und duellbereiten Pan, also eines polnischen Herrn, der sich nur ungern an die Regeln der Obrigkeit hält.

Da wird gedrängelt, geschnitten, bei Gegenverkehr überholt, dass die anderen Verkehrsteilnehmer zu Vollbremsungen gezwungen werden. Wehe, wenn den Schnellfahrern ein langsamer Wagen die Spur blockiert und nicht ganz nach rechts fährt, um sie vorbeizulassen: Dann wird bei der nächsten Gelegenheit überholt, mitunter schert der Fahrer scharf vor dem Langsameren ein und tritt auf die Bremse.

Ein derartiges "pubertäres Verhalten", wie es polnische Verkehrspsychologen nennen, ist durchaus Alltag. Diese sehen den Hang zur Missachtung von Regeln, die die Behörden aufstellen, auch in der Geschichte des Landes: In den letzten beiden Jahrhunderten war Polen insgesamt nur 36 Jahre ein souveräner Staat, erst hatten es die drei Nachbarn Preußen, Österreich und Russland unter sich aufgeteilt, im Zweiten Weltkrieg war es deutschem Besatzungsterror ausgesetzt, anschließend gehörte es bis 1990 gegen den Willen der Bevölkerung zum Sowjetblock.

Die Erfahrung der Fremdherrschaft hat zu einer generellen Skepsis gegenüber jeder Art von Obrigkeit geführt, die Übertretung von Vorschriften gilt deshalb auch heute eher als Kavaliersdelikt.

Piraten der Straße

Allerdings machen diese "Straßenpiraten", wie man es in Polen nennt, nur einen kleinen Teil der Fahrer aus, nach Schätzung der Experten sind es deutlich weniger als 20 Prozent. Trotzdem sind es noch so viele, dass so gut wie jeder der anderen 80 Prozent, die sich im Großen und Ganzen vernünftig verhalten, im Durchschnitt mindestens einmal am Tag von einem Akt der Aggression im Straßenverkehr betroffen ist.

Als weitere Ursache für die hohe Zahl von Unfällen haben Experten der Polizei auch das althergebrachte Programm der Fahrprüfungen ausgemacht. Die Fahrschüler mussten bislang die Namen von allen möglichen Motorteilen und einen Wust von Vorschriften auswendig lernen, die sie aber meist gar nicht betrafen; auch verbrachten sie Stunden mit Einparkübungen, die nur als erfüllt galten, wenn die markierte Idealposition in je einer Rückwärts- und Vorwärtsbewegung um höchsten fünf Zentimeter verfehlt wurde.

Dafür aber spielte die Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmern beim praktischen Unterricht so gut wie überhaupt keine Rolle. Fuß vom Gas bei unklaren Situationen, Verständigung bei Handzeichen, Einfädeln lassen - das Training dieser in Westeuropa verbreiteten Verhaltensweisen steht erst seit kurzem im Unterrichtsprogramm.

Steigende Zahl der Verkehrstoten

Auch sollen die Fahrlehrer eine in Polen weit verbreitete, ebenfalls unfallträchtige Unart abgewöhnen: Wird ein Fahrstreifen durch ein Hindernis, etwa einen Traktor oder einen haltenden Bus, blockiert, so fährt nicht unbedingt zuerst der erste Wagen an dem Hindernis vorbei und dann der zweite und dritte, sondern es wird munter von hinten mit wildem Hupen überholt, nach dem Motto: Wer hat denn hier die beste Beschleunigung!?!

Trotzdem: Insgesamt geht die Entwicklung offenbar in die richtige Richtung, auch wenn die Zahl der Verkehrstoten noch steigt. Deren Kurve verläuft schon deutlich flacher als die der Neuzulassungen, sie wird wohl in ein paar Jahren abfallen. Denn ein Teil der EU-Mittel für die Entwicklung der Infrastruktur wird für die Entschärfung von Unfallschwerpunkten verwendet.

Auch begreifen immer mehr Autofahrer, dass es sich im dichten Stadtverkehr besser fährt, wenn man Rücksicht nimmt. Genau diese Erfahrung haben Millionen Polen gemacht, die Westeuropa bereist haben, auf Arbeitssuche oder, in immer größerer Zahl mit ihren schnellen, überwiegend deutschen Wagen - als Touristen.

© Süddeutsche Zeitung vom 16.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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