Auf dem Wasser:Indianer der Großstadt

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Wer in den Alsterkanälen unterwegs ist, paddelt sich tief hinein in die verborgene Seite Hamburgs. Und die ist nicht nur grün.

Von Anja Martin

Einstechen, nah am Kanu entlangziehen, rausheben. Immer wieder. Schon bei der ersten Abzweigung paddelt man ohne drüber nachzudenken. Eine Art manueller Motor, angetrieben nur von Arm-, Rücken- und Bauchmuskulatur. Für den richtigen Kurs sorgt der Hinterste, der sein Paddel als Ruder benutzt. Ein simples Prinzip, das einen lautlos durch die Kanäle schiebt. Wer hätte gedacht, dass man sich mitten in Hamburg wie ein Indianer fühlen kann?

Alles ist ruhig an diesem Freitagnachmittag. Das Grün des Kanals geht in die Uferbegrünung über, verliert sich in den Trauerweiden. Die Straßen, Autos, Busse, Hochbahnen, Passanten, Hunde und spielenden Kinder sind vor den Häusern unterwegs. Hier hinten ist Hamburg gedimmt, entvölkert und entfärbt. Zumindest heute, wo das Wochenende noch nicht so richtig angefangen hat. Nur ab und zu kommen Kanus entgegen, mal plaudernd, mal konzentriert. Für die einen ist es Spaß, für die anderen Sport. Zwischendurch Kommandos, die Rudermannschaften im Takt halten. Elegant und leicht wie Wasserläufer.

André Kübitz, 42, Jeans und gelbes T-Shirt, managt den Bootsverleih Zur Gondel am Osterbekkanal, der sich von der nördlichen Außenalster über den Langen Zug Richtung Osten nach Barmbek hineingräbt. Vor 17 Jahren hat er am Steg angefangen: Boote reparieren, nach dem Regen ausschöpfen, Farbe nachpinseln, Kanus und Gäste hin- und herlotsen. Als der Besitzer Bernd Dornheim starb und seine Familie das Bootshaus nicht weiter betreiben wollten, übernahmen Angestellte, unter anderem er. Was ihn bis heute fasziniert: "Man hat schnell einen nahen Bezug zur Natur, ohne dafür aus Hamburg rauszumüssen. Man ist an der Luft, bewegt sich im Grünen." Aber nach so vielen Jahren - langweilt das nicht? "Man entdeckt immer was Neues: Wasservögel mit Küken, Alsterschwäne, sogar Eisvögel gibt es hier wieder." Obwohl an sonnigen Wochenenden leider schon so viele Leute unterwegs seien, dass Ruhe und Natur ein wenig in den Hintergrund treten.

Dann zieht es die Hamburger aufs Wasser - in allem, was schwimmt. Kajaks, Kanus, Tret-, Schlauch- und Ruderboote sowie inzwischen Stand-Up-Paddle-Boards bevölkern dann die Alsterkanäle, einst angelegt, um die Gegend zu entwässern. Aber auch Aquabikes, venezianische Gondeln und Mannschaftsboote wie das Drachenkanu oder der Barmbeker Wasserbüffel ziehen im getrommelten Takt durch die Wasserstraßen. Manche haben ihre Musik dabei, andere Picknickkörbe und Getränke. 30 000 unregistrierte Vehikel sollen im Alsterbereich unterwegs oder untergestellt sein. Mehr noch als Mietboote gibt es Privatboote - mal neue und moderne, mal welche, die schon seit Generationen in Familienbesitz sind. Viele Villen am Kanal haben Bootsgaragen im Garten, neue Mehrfamilienhäuser installieren Halterungen für Kanus, auf Balkonen stehen SUPs. Das Kanu hinterm Haus scheint das Pendant zum Fahrrad vor dem Haus. Wer keinen direkten Wasserzugang hat, lagert die Wassersportgeräte in Bootshäusern. Etwa zehn Bootsverleiher verteilen sich im Alsterkanalnetz - schön mit Abstand zueinander, um sich nicht zu viel Konkurrenz zu machen. Zur Gondel, das ehemalige Bootshaus Dornheim, ist der größte. 180 Kanus, Kajaks und Tretboote, eins in Schwanenform, dazu Mannschaftsboote und Gondeln stehen zum Mieten bereit. Außerdem lagern 320 Privatboote in der Halle.

Inzwischen verlassen immer mehr Hamburger ihre Büros und kommen mal als Pärchen, mal als kleine oder große Gruppen beim Bootsverleih an. Freunde, die eine Kiste Feierabendbier mitgebracht haben und Kollegen auf Betriebsausflug. Eine Gruppe entscheidet sich für ein Drachenkanu, auf dem bis zu 14 Personen gemeinsam Strecke machen können. Andere treten auf Kanus verteilt gegeneinander an, in einer Rallye mit Aufgaben. Jeder sucht sich ein Paddel, besteigt das Boot, lässt sich die wichtigsten Verkehrsregeln erklären (rechts vor links, rechts fahren, Motorisiertes hat immer Vorfahrt) und los geht's, meist erst in Schlangenlinien und unter Gelächter. Dann findet sich ein Rhythmus. Irgendwann klappt es bei allen. Mit Argwohn betrachten das nur die Rudervereine, denn wenn die Kanäle voll sind mit Leuten im Spaßmodus, wird das sportliche Training mühsam.

Die Wasserstraßenkarte des Verleihers in der Hosentasche, das Stechpaddel in Händen, das Handy in der Stautonne erkundet man also die Gegend: vom Osterbekkanal in den Barmbeker Stichkanal - außer Grün gibt es hier nicht viel zu sehen. Dann die Durchfahrt zum Stadtparksee meistern und dabei auf die Alsterfähren aufpassen. Wäre heute Abend auf der Stadtparkbühne ein Konzert, würden sich bald die Kanus versammeln, um vom Wasser aus zuzuhören. Stattdessen geht es weiter im Goldbekkanal nach Westen zur Alster hin. Überall Anleger, an denen man das Kanu mal festmachen und verschnaufen kann. Oder Geld holen? Auch die Bank hat einen Anleger. An der Ecke zum Mühlenkampkanal verkauft der Burgerladen Peter Pane direkt vom Steg in die Boote hinein, wie es ein Stück weiter aus einem Fenster heraus das Café Canale schon seit Jahren macht.

Die Kanäle haben alle einen unterschiedlichen Charakter: Der Osterbekkanal ist mehr industriell geprägt, der Goldbekkanal von der Natur. Im urbanen Mühlenkampkanal wachsen die Backsteinhäuser der Gebäude direkt aus dem Wasser, im Leinpfadkanal wird's herrschaftlich, mit exklusivem Blick in die Gärten der Reichen. Der Rondeelteich ist der Hingucker überhaupt. Hier dümpelt man mitten in einem 360-Grad-Panorama der Luxusvillen. Teils werden die Kanäle zu Schleichwegen durch die Welt der Wohlhabenden. Man könnte den Alsterlauf hinauffahren bis zur Ohlsdorfer Schleuse oder durch Außenalster und Binnenalster hinein in die Innenstadt, am Jungfernstieg anlegen und Shoppen gehen. Anders als mit den Alsterdampfern kann man im Kanu überall festmachen: an einem der vielen Cafés oder Bootshäuser, bei Segelvereinen oder Restaurants. Entlang der Außenalster und am Stadtparksee ziehen viele ihr Kanu an Land und picknicken oder grillen.

Der Gondoliere war selbst noch nie in Venedig. Warum auch?

"Ich will weg vom Kaffee", sagt Ronald Bergholz und zieht am Röhrchen einer Matetee-Kalebasse. Er lehnt oben am Geländer des kleinen Holzbaus, in dem sich die Gäste von "Zur Gondel" anmelden. Wie ein Hanseat sieht er nicht aus, eher wie ein Indigener aus Südamerika, mit den langen Haaren und dem Matetee in der Hand. Dabei ist er der Gondoliere. In einem Jahr sei er 600 Kilometer mit der Gondel gefahren. Die wiegt 500 Kilo und ist zwölf Meter lang. Trotzdem schafft er fünf bis sechs Stundenkilometer. "Manche denken, ich fahre mit Motor", sagt der 54-Jährige und grinst. Oft werde eine Gondelfahrt gebucht, um der Liebsten einen Heiratsantrag zu machen. Vermutlich hat in Hamburg kaum einer öfter den Satz "Willst du meine Frau werden?" gehört als er. Langweilig werde das Gondelfahren jedenfalls nie. Nur eins nervt ihn: "Aus jedem dritten Boot kommt die Frage: Warum singst du nicht? Aber in Venedig singt doch auch keiner!" Selbst überprüft hat er das noch nicht. "Warum soll ich nach Venedig, ich habe doch Hamburg."

Tatsächlich ist Hamburg zusammen mit Kopenhagen, Amsterdam, Stockholm, Stralsund, Brügge, Emden und Giethoorn eine der Städte, die "Venedig des Nordens" genannt werden. Viele Kanäle und Brücken sind der Grund. Wobei Hamburg so viele Brücken hat wie Venedig und Amsterdam zusammen. 2500 nämlich.

Direkt hinter einer davon, der ersten, wenn man von der Alster in den Isebekkanal einbiegt, liegt in der Sonntagmorgensonne der Supperclub. Dass es hier nicht nur um Abendessen geht, was man auch bekommt, sieht man sofort: 45 Kanus, 17 Tretboote und 70 SUPs liegen zum Verleihen bereit. Doch viele Leute kommen nicht, weil sie aufs Wasser wollen, sondern weil sie am Wasser sitzen wollen. Eppendorfer Paare und junge Familien, Freundinnen Anfang Zwanzig suchen die frühe Sonne und einen guten Cappuccino. Doch auch die Fraktion, die sich bewegen will, erscheint: Rentner besteigen Kanus, eine ehrgeizige Dame verlangt ein Racingboard, eine ganze Kinderclique will mal SUP probieren. "Das ist ein lässiger Platz, der Surf- bzw. SUP-Vibes nach Hamburg bringt", sagt Christian Toetzke, der neue Pächter, graumelierter Bart, Goldrand-Sonnenbrille, Cap. Das Motto: "Bootsverleih meets Surferflair". Vor eineinhalb Jahren hat er den klassischen Bootsverleih Wielengowski übernommen, mit Waschbetonplatten, Isolierfenstern, Scholle und Bratkartoffeln auf der Karte - und ihn einmal komplett umgebaut. Kanus und Tretboote haben sie behalten. Doch der Schwerpunkt liegt nun auf dem Stehpaddeln, was Toetzke auch selbst seit Jahren betreibt, auch in Wellen. "Viele setzen jetzt auf den SUP-Trend", sagt der 50-Jährige. "Wir haben allerdings einen sportlicheren Anspruch, kaufen Qualitätsbretter wie es sie im Verleih sonst nicht gibt." Eigentlich entwickelt er Sportevents, hat die Cyclassics erfunden und betreibt nebenbei die Strandperle, den Szenetreff an der Elbe, der kaum mehr ist als ein Kiosk. "Von der Erfahrung dort haben wir im Supperclub profitiert." Er wusste bereits, wie man auf einer kleinen Fläche viele Menschen glücklich machen kann. Und dass Wasser in Hamburg immer zieht. Ganz gleich, ob die großen Containerschiffe oder die kleinen Kanus vorbeiziehen.

© SZ vom 14.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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