Amerika, der Länge nach (X):Seattle? Rockt überhaupt nicht!

Lesezeit: 4 min

Unangenehm, eng, bedrückend: Was an der berühmten Grunge-Stadt so besonders sein soll, erschließt sich nicht. Lohnender ist da die Tour mit dem neu erworbenen Ford Thunderbird Richtung Portland.

Robert Jacobi

Nun kenne ich nicht ganz Seattle, aber die Aurora Avenue liegt sicher weit vorne unter den unangenehmsten Strassen der Stadt. Vier Spuren dichter Verkehr, immer geradeaus, mehr als hundert Blocks. An beiden Seiten warten riesige Supermärkte, Fastfoodrestaurants und Ersatzteilhändler auf Kunden. Ein Taxifahrer hat mich hierher gebracht, nach einem Umweg über einen Geldautomaten.

(Foto: Grafik: Dreyssig)

Mein Geschäft erledigt sich am einfachsten mit Bargeld. Weil das Trampen nicht wirklich funktioniert hat und Busse in Amerika nur auf breiten Highways verkehren, will ich ein Auto kaufen. Möglichst billig, lieber amerikanisch als japanisch, stabil und nicht ganz langweilig. Der erste Versuch scheitert. Der orangefarbene Volvo-Kombi aus den achtziger Jahren springt nicht einmal an.

Nach einem umfangreichen Lunch bei Taco Bell und zwei weiteren Stunden entlang der staubigen Ausfallstrasse sehe ich bei "Emerald Auto Sales" einen Wagen, der meinen Kriterien emtspricht. Es handelt sich um einen Ford Thunderbird, Baujahr 1981, in creme- und bordeauxfarbenem Originallack. Die Sitze sind mit dunkelrotem Samt überzogen, das Armaturenbrett ist mit falschen Holzpanelen verkleidet. Auf dem Kühlergrill sitzt tatsächlich ein stilisierter Donnervogel.

Das Auto sieht aus, als komme es direkt vom Set von "Pulp Fiction". Blutspuren sind nicht mehr zu erkennen. Alles sieht sehr gepflegt aus, nur ein wohl älterer Vorbesitzer hat es nicht allzu viele Meilen gefahren. Leider zu teuer, fast zweitausend Dollar. An der Universität habe ich kürzlich einen Kurs in Verhandlungsstrategie belegt und lehne das Geschäft erst einmal ab, zeige mich aber interessiert.

Ich finde nichts Besseres. Zwei Stunden später ist der Preis auch deutlich gefallen, und wir einigen uns schnell. Wenige Minuten später besitze ich ein Auto aus einer Zeit, in der Ronald Reagan gerade Präsident geworden und Jupp Derwall der Bundestrainer war. Nach gründlicher Reinigung übernehme ich die Schlüssel und fahre fröhlich die Aurora Avenue entlang zurück über die Brücke nach Seattle.

Touristenfallen mit teurem Billigkram

Der internationale Ruf dieser Stadt erscheint mir als Irrtum. Auf mich wirkt Seattle unangenehm, eng und bedrückend. Der Markt und jene zwei Kreuzungen, die als historisch gelten, sind Touristenfallen mit teurem Billigkram. In einem Restaurant, in dem Tom Hanks im Film "Schlaflos in Seattle" an der Theke sitzt, bestelle ich einen Chiliburger, der schlechter schmeckt als jeder meiner Burger in Alaska.

Zwischen Hafen und Promenade läuft ein zweigeschossiger, jeweils sechsspuriger Freeway. Auch eine Tour durch Wohn- und Kneipenviertel ändert meinen Eindruck nicht. Eher nervt mich der aufdringlich vermittelte alternative Lebensstil der Menschen, die plastiksandalentragendes Veganertum als einzig richtige Haltung empfinden, und einmal im Jahr mit einer Boeing nach Indien fliegen.

Als ich aus dem Bus von Vancouver ausgestiegen bin, habe ich ein Ritual befolgt und bei Starbucks - wie Microsoft und Boeing in oder um Seattle gegründet einen Kaffee gekauft. Dieselbe Heimat haben natürlich Nirvana und Pearl Jam, aber von Kurt Cobain ist wenig zu spüren, außer einem Mittagskonzert für Bürokräfte, das ein Radiosender in der Innenstadt veranstaltet. Vielleicht ist Kurt Cobain auch gar nicht so wichtig.

(Foto: N/A)

Ein riesiges, weißlackiertes Raumschiff

Wirklich wundervoll an Seattle ist das Umland, und ich verlasse die Stadt in meinem zweifarbigen Thunderbird in Richtung Südosten. Statt auf dem Highway direkt nach Portland zu fahren, entscheide ich mich für einen Umweg. Nach einer halben Stunde steht Mount Rainier am Horizont, und das ist ein unwirklicher Anblick - wie ein riesiges, weißlackiertes Raumschiff, das versehentlich im Wald gelandet ist. Es handelt sich um einen Vulkan, der das ganze Jahr mit Eis und Schnee überzogen ist.

Am Eingang zum Nationalpark sehe ein Schild, das vor extrem gefährlichen "mountain lions" warnt. Ich halte das erst für einen Scherz, bis mich ein Park Ranger aufklärt: An der ganzen Westküste der Vereinigten Staaten, auch hier im Norden, leben Berglöwen, besser bekannt als Pumas und zwar rund 30.000. Im Schnitt greifen sie einen Menschen pro Jahr an, darunter immer wieder auch Kinder.

Mir laufen nur zwei große, aber harmlose Murmeltiere über den Weg. Als ich von einer Wanderung über Nacht zurückkomme, springt mein Ford erst nach mehreren Versuchen an. Ich ignoriere dieses Warnzeichen und fahre weiter durch dichte Wälder, bis ich bei einem Artgenossen des Mount Rainier ankomme. Es handelt sich um Mount Saint Helens, ebenfalls ein allein stehender Vulkan mit dem Unterschied, dass er im Jahr 1980 ausgebrochen ist.

Ehrfurcht vor dem brodelnden Ungetüm

Der Hitzeschwall hat alles Leben im Umkreis von fünf Kilometern ausgelöscht. 57 Menschen starben. Asche flog bis nach Idaho. Bis heute sind noch zehn Kilometer weit entfernt Bäume bis heute umgeknickt und modern. Der Gipfel des Vulkans fiel damals in den Krater, und Mount Saint Helens ist seither 500 Meter niedriger. Ich fühle Ehrfurcht, als ich mich dem immer noch brodelnden Ungetüm nähere.

Geologen erwarten, dass Mount Saint Helens auch der nächste Vulkan sein wird, der in Nordamerika ausbricht. Ich wage es trotzdem, eine Nacht lang mein Zelt in der verbotenen Zone aufzustellen. Als die Sonne aufgeht und den Krater rot erleuchtet, fühle ich mich, als hätte ich auf dem Mars übernachtet. Ein kleines rotbraunes Eichhörnchen scheint sich mit mir an der Aussicht zu freuen.

Portland - das Gegenstück zu Seattle

Mittags halte ich in Eagles Cliff, einem Campingplatz mit Tankstelle und Shop mitten im Wald, um dort mich selbst und meine Kleider zu waschen. Kevin versucht, das Ensemble zu verkaufen, und mit seiner Frau in Neuseeland eine Pension aufzumachen. Vor zwanzig Jahren war sie als Touristin vorbeigekommen und ist bis heute geblieben. Jetzt soll die Familie, wie vereinbart, in ihrem Land leben.

Entlang des tiefen Tals des Columbia River fahre ich Richtung Portland, der grössten Stadt im Bundesstaat Oregon. Ich freue mich, als ein älteres Ehepaar auf einem Parkplatz mein neues Auto bewundert und versuche, weiterzukommen, als das Gespräch sich nur noch um Pinot Noir aus Oregon dreht. Portland übrigens ist eine wundervoll entspannte Stadt mit fröhlichen Menschen - genau so, wie Seattle eigentlich sein soll.

Diplom-Journalist Robert Jacobi (29) arbeitete bei der SZ als Wirtschaftsredakteur und Parlamentskorrespondent in Berlin. Nach seinem Harvard-Abschluss in Internationaler Wirtschaft hat er sich auf den Weg gemacht - von Alaska nach Chile.

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