Amerika, der Länge nach (II):Blauer Himmel um zwei Uhr früh

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Als ich meiner noch sehr jungen Schwester Franziska erzählte, dass ich mich in Kotzebue aufhalten werde, musste sie lachen. Dabei ist Respekt angebracht an dem Ort, der nach dem deutschstämmigen Seefahrer Otto von Kotzebue benannt ist.

Robert Jacobi

Im Auftrag Russlands suchte er 1818 die Nordwestpassage und ging hier mit seinem Begleiter, dem Botaniker und Dichter Adelbert von Chamisso, an Land.

Unterwegs in Alaska: Von Nome nach Kotzebue. (Foto: Grafik: Florian Dreyssig)

Auf dem halbstündigen Flug mit Alaska Airlines von Nome nach Kotzebue überquere ich den Polarkreis. Die Boeing ist nur im hinteren Drittel mit Sitzen bestückt. Eine verschiebbare Wand trennt die Passagiere von den vorderen zwei Dritteln, die als Frachtraum für Lebensmittel und andere Güter dienten, die von Anchorage täglich in den hohen Norden geflogen werden.

Im Museum von Nome hängt ein Foto von fröhlichen Menschen in Fellmützen vor einem russischen Hangar und einem amerikanischen Flugzeug. Eine Plakette an der Außenseite meiner Maschine erinnert an jenen "russisch-amerikanischen Freundschaftsflug" im Juni 1988, und es war genau dieses Flugzeug, nach dem Kalten Krieg zum ersten Mal Passagiere über die Beringstrasse flog.

In Kotzebue ereignet sich wenig. Touristen landen hier nur, um Kajaktouren ins Kobuktal, ans Kap Krusenstern oder zur Chamissoinsel zu unternehmen. Anders als in Nome leben hier fast nur Eskimos, oder Inupiat, wie sie sich in ihrer eigenen Sprache nennen. Viele Inupiat fliegen von Inseln in der Beringsee für ein paar Tage hierher, um aus Treibholz geschnitzte Seehunde oder Jagdwerkzeug zu verkaufen.

Die erste Seite des wöchentlich erscheinenden "Arctic Sounder" zeigt, wie eng die Menschen mit der Natur leben. Der Aufmacher handelt von einem Braunbärenjungen, das um die Müllkippe des Ortes streunte. Biologen suchten vergeblich nach der Mutter und brachten das Waisenjunge in ein Gehege bei Anchorage.

Der nächste Text feiert den Beschluss des Repräsentantenhauses in Washington, einen sechs Jahre alten amerikanisch-russischen Vertrag zum Schutz der Eisbären zu bestätigen. Die Erderwärmung gefährdet die Tiere, genauso wie die Verschmutzung durch die Ölförderanlagen und die Jagd. Im Winter kommen hungrige Eisbären gerne in die Dörfer. Die Tiere sind extrem gefährlich und einer der Beweise dafür, dass zumindest in der Arktis die Natur noch stärker ist als der Mensch.

Die Strassen in Kotzebue sind staubig. Vor fast jedem Haus steht ein Schiffscontainer und ein "Four Wheeler" - eine Art motorbetriebenes Dreirad mit vier Rädern, das wichtigste Fortbewegunsgmittel in den Orten der Arktis. Zugig, aber schneller einsatzbereit als zugefrorene Autos. Die Container benutzen die Menschen als Lagerraum, denn die Häuser sind klein, weil Baumaterial und Heizung teuer sind.

Für mich reicht es in Kotzebue nur zu einem kleinen Ortsrundgang. Eigentlich wollte ich eine Nacht hier verbringen, aber nach fünf Regentagen schien in Nome endlich die Sonne. Ich blieb einen Tag länger, um mit einem Ford Escape die drei Schotterstrassen aus der Zeit des Goldbooms zu erkunden.

(Foto: N/A)

Kaum biege ich von der Küste in die Tundra ab, als ich an einer fernen Anhöhe eine Familie von mindestens zwölf sich langsam bewegenden, mächtigen schwarzen Tieren entdecke. Aufgeregt steige ich aus dem Auto und will etwas näher kommen, versinke aber mit meinem linken Fuß im aufgeweichten Boden. Sicher bin ich mir nicht, um welche Tiere es sich handelt, gesehen habe ich sie jedenfalls noch nie.

Relikt des Kalten Krieges

Wenig später komme ich an einem abgesperrten Areal vorbei, auf dem eine Kugel steht, die aussieht wie der begehbare Fußball, der vor der Weltmeisterschaft durch Deutschland reiste. Es handelt sich angeblich um einen Teil des "Distant Early Warning"-Systems, einer Art Abhöranlage aus den Zeiten des Kalten Kriegs, deren blinkende Lichter aber so wirken, als sei sie auch heute noch in Betrieb.

Einige Kilometer weiter sehe ich eine junge Frau am Straßenrand mit drei recht wild aussehenden Hunden spielen. Ich halte kurz an, die Hunde versuchen, durchs offene Fenster zu klettern, und wir kommen ins Gespräch. Ich zeige Kim meine Aufnahmen jener schwarzen Tiere, und sie bestätigt meine Vermutung: Es handelt sich um wilde Moschusochsen. Die Tiere sehen aus wie eine Mischung aus Steinbock, Milchkuh und Langhaardackel und wirken, als hätten sie sich im Erdzeitalter geirrt.

Kim lädt mich auf einen Tee in ihr Haus ein. Dort lärmen mindestens zwei Dutzend Hunde um die Wette. Es handelt sich um Schlittenhunde, die Kim schon jetzt für ihre Schlittenhunderennen im Winter trainiert. Das berühmteste Rennen, der Iditarod, endet in Nome und erinnert an den "Serumlauf", als ein Impfstoff gegen ein tödliches Grippevirus per Hundeschlitten in den abgelegenen Ort gebracht wurde.

Überlebende der hellen Nacht

Ich fahre weiter, weil ich Mitternacht in der Tundra erleben will. Auf dem Weg sehe ich Biber im Golden Creek. Eine Hasenfamilie hoppelt verschreckt von der Strasse ins Gestrüpp. Ein Polarfuchs im grauweißen Sommerfell versucht, mit mir ein Wettrennen zu veranstalten. Riesige schwarze Raben sitzen auf der Kougarouk-Brücke am Ende der Strasse. Tundraschwäne landen auf dem Wasser. Als ich aussteige, überfällt mich ein Schwarm von Moskitos.

Um zwei Uhr morgens sehe ich zum ersten Mal seit fünf Tagen blauen Himmel. Zufrieden und erschöpft schlafe ich drei Stunden im zurückgeklappten Fahrersitz. Als ich aufwache, treffe ich einen meiner Freunde wieder, einen Moschusochsen, diesmal allein, der mir den Weg versperrt und dann davon galoppiert. Der Name ist übrigens falsch - es handelt sich nicht um Ochsen, und Moschusdrüsen haben sie auch nicht. Ihr einziger Artverwandter ist eine Bergziege in Tibet.

Zum Aufwärmen trinke ich einen Tee im "Dexter Roadhouse", das angeblich einst Wyatt Earp gehörte. Der Westernheld hat einige Jahre auf der Suche nach Gold in der Gegend verbrachte und die Gesetzlosigkeit des Nordens für seine Zwecke genutzt. An der Theke sitzen Überlebende der Nacht. Sperrstunde gibt es hier nicht.

Zurück in Nome nehme ich die nächste Stichstrasse durch die Hügel. Der Blick wird endlos, der Himmel öffnet sich, als umspanne er von hier aus die ganze Welt. In meinem Bauch entsteht ein Gefühl aus Freiheit und Glück, das mich beinahe laut aufschreien lässt. Ich nehme Rücksicht auf die Tierwelt, mein Auto lärmt schon genug. Die laichenden Lachse im "Salmon Lake" brauchen Ruhe.

Diplom-Journalist Robert Jacobi (29) arbeitete bei der SZ als Wirtschaftsredakteur und Parlamentskorrespondent in Berlin. Nach seinem Harvard-Abschluss in Internationaler Wirtschaft hat er sich auf den Weg gemacht - von Alaska nach Chile.

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