Zum Tod von Jacques Chirac:Autoritär und nahbar

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Pariser Bürgermeister, Premier, Staatspräsident: Er prägte Frankreichs Politik über Jahrzehnte. Er siegte über die Rechtspopulisten, lehnte den Irak-Krieg ab - und wurde nach seiner Amtszeit verurteilt.

Von Nadia Pantel und Stefan Ulrich, Paris

Raubkatze nennen sie ihn, nun wo er tot ist. Seine Kritiker wie seine Bewunderer. 86 Jahre wurde Frankreichs am Donnerstag in Paris verstorbener früherer Präsident Jacques Chirac alt. Zwölf Jahre ist es her, dass er den Élysée-Palast verließ, in dem er von 1995 bis 2007 residierte. Schaut man sich Bilder seiner politischen Anfänge an, betrachtet man ein Land, das es so nicht mehr gibt. Ein Video von 1970. Chirac war Staatssekretär für Wirtschaft. Bei einer Fahrt in seine Heimatregion Corrèze wird er im Gespräch mit einem Schafhirten gefilmt. "Ich bin wie du", sagt der Hirte zu Chirac und schrubbelt dem Politiker lachend das spärliche Haar.

Unter Diplomatie verstand Chirac, auf der ganzen Welt möglichst viele Spezialitäten zu essen

Unvorstellbar, dass heute kein Bodyguard eingriffe, wenn jemand Präsident Emmanuel Macron ans Haar wollte. Wenn sie von Chirac nun sprechen wie von einem, der erhaben durch die politische Savanne gestreift sei, ist das nur ein Teil der Wahrheit. Er war auch einer, der auf der Landwirtschaftsmesse hingebungsvoll Kühe tätschelte. Einer, den die Franzosen mochten, weil er unter Diplomatie verstand, auf der ganzen Welt möglichst viele lokale Spezialitäten zu essen. Und einer der sich zum Symbol seiner Präsidentschaftskampagne 1995 einen Apfelbaum wählte. Chirac verfügte über ungewöhnlich viele Teile, in dem eigentlich unlösbaren Puzzle einer französischen Präsidentschaft. Er war autoritär und nahbar, seine Nachfolger waren je nur eines von beidem.

Nahbar lässt sich bei Chirac auch in fehlbar übersetzen. Er ist Frankreichs einziger Ex-Präsident, der von einem Gericht schuldig gesprochen wurde. 2011 wurde er zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, weil er unter anderem seine Zeit als Pariser Bürgermeister genutzt hatte, um Mitarbeiter auf Kosten der Steuerzahler seinen Präsidentschaftswahlkampf vorbereiten zu lassen. Nicht nur dem Staat gegenüber neigte er zur Untreue. Seine Ehefrau Bernadette musste ertragen, dass seine zahlreichen Affären ein Geheimnis sind, von dem jeder weiß.

Wer heute eine Bilanz seiner Amtszeit zieht, betont, dass der Konservative meist darauf verzichtet habe zu polarisieren. Chirac stand für eine konservative Politik, die großen Abstand zur radikalen Rechten hielt. Er war der erste Präsident, der 1995, frisch im Amt, Frankreichs Mitverantwortung für die Verfolgung der Juden im Zweiten Weltkrieg klar benannte. Als er 2002 im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl gegen Jean-Marie Le Pen antrat, war klar, dass es um eine Entscheidung zwischen einem Konservativen und einem Rechtsradikalen ging. Wer hingegen ein kritischeres Urteil über Chirac fällt, konzentriert sich auf den fehlenden Reformwillen. Ihn habe die Macht mehr interessiert als die Gestaltung der Republik.

Auch in der Europa- und Außenpolitik ist seine Bilanz umstritten. "Einen der stärksten Verteidiger der europäischen Einheit", würdigt ihn EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Chiracs Einfluss auf die EU sei dauerhaft. Letzteres ist zweifellos richtig. Gewiss, Chirac war Europäer, ein Europäer mit starkem französischen Patriotismus und ausgeprägter Liebe zur nationalen Souveränität. Er ordnete 1995 neue Atomtests auf Mururoa im Pazifik an und drohte Staaten, die den Terrorismus unterstützten, kaum verhohlen mit Atomschlägen. Und ihm fehlte das große Engagement für das Zusammenwachsen Europas, das, mindestens phasenweise, seine Vorgänger François Mitterrand und Valéry Giscard d'Estaing auszeichnete.

Die Sätze des Präsidenten zum Thema Umwelt könnte auch Greta Thunberg geschrieben haben

Chirac neigte, wie viele Regierungspolitiker in der EU, dazu, für Fehler seiner Politik "die da in Brüssel" verantwortlich zu machen. Er pochte, wie andere auch, übertrieben auf nationale Interessen. 2005 unterwarf er, aus innenpolitischem Kalkül, den EU-Verfassungsvertrag einem Referendum - und scheiterte brutal. 55 Prozent der abstimmenden Franzosen votierten mit Nein, womit sie ihre Skepsis gegenüber Europa und Chirac ausdrückten.

Manch anderes, was der Präsident in der Außenpolitik tat und sagte, erwies sich dagegen als klug, ja visionär. 2002 schleuderte er auf dem Gipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg der Welt entgegen: "Unser Haus brennt, und wir schauen weg. Die geschundene, ausgebeutete Natur kann sich nicht mehr regenerieren ... Die Erde und die Menschheit sind in großer Gefahr, und wir alle sind dafür verantwortlich." Greta Thunberg könnte es kaum schonungsloser ausdrücken.

Dann war da der Irakkrieg, der Bruch mit den USA des George W. Bush. Chirac hielt nichts von Plänen, Demokratie mit Feuer und Schwert zu verbreiten. Es sei gefährlich, wenn der Westen in anderen Weltgegenden eingreife, um Regime zu stürzen. "Wenn wir damit anfangen, wissen wir nicht, wo wir aufhören werden", sagte er 2002. Im Widerstand gegen die Irakkriegspläne der USA schloss sich Chirac eng mit dem damaligen deutschen Kanzler Gerhard Schröder zusammen. Frankreich drohte den USA mit einem Veto im UN-Sicherheitsrat. Die Bush-Regierung schlug dennoch gegen den von Saddam Hussein beherrschten Irak los. Mit den Folgen kämpft der Nahe Osten bis heute.

Europa aber brachte der Irakkrieg eine tiefe Spaltung - in Staaten, die sich für oder gegen die USA aussprachen. Auch das wirkt fort. Geschichte kann ungerecht sein: Chiracs wohl größte Tat, sein Nein zum Irak, nutzte Europas Einheit nicht.

© SZ vom 27.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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