Wortlaut der Ratzinger-Predigt:"Ein klarer Glaube nach dem Credo der Kirche"

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Auszüge aus der Predigt, die Joseph Ratzinger als Kardinaldekan zur Eröffnung des Konklaves im Petersdom gehalten hat.

Als Kardinaldekan hat Joseph Ratzinger beim Gottesdienst im Petersdom zur Eröffnung des Konklaves eine viel beachtete Predigt mit programmatischen Zügen gehalten. Die zentralen Passagen lauten:

"In dieser Stunde großer Verantwortung hören wir mit besonderer Aufmerksamkeit, was der Herr uns mit seinen eigenen Worten sagt. Wir wollen uns nur bei zwei Punkten aufhalten. Der erste ist der Weg zur "Reife Christi".

Genauer müssten wir nach dem griechischen Text von dem "Maß der Fülle Christi" sprechen, zu der wir berufen sind, um wirklich Erwachsene im Glauben zu werden. Wir dürfen nicht Kleinkinder im Glauben bleiben, in einem Zustand der Unmündigkeit.

Und in was besteht das Unmündigsein im Glauben? Der heilige Paulus antwortet: Es bedeutet, ein Spiel der Wellen, hin und her getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen zu sein. Eine sehr aktuelle Beschreibung! Wie viele Winde der Meinungen haben wir in den vergangenen Jahrzehnten kennen gelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkmoden.

Das Boot des Denkens

Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wellen durchgeschüttelt worden - von einem Extrem ins andere geworfen: vom Marxismus in den Liberalismus, bis zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter.

Jeden Tag erscheinen neue Sekten, und es vollzieht sich das, was der heilige Paulus über den Betrug an den Menschen sagt, über die Verschlagenheit, die versucht, in den Irrtum zu führen.

Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft mit dem Etikett des Fundamentalismus belegt; während der Relativismus, also das Sichtreibenlassen von jedem Widerstreit der Meinungen, als die einzige Haltung erscheint, die auf der Höhe der heutigen Zeit ist.

Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt. Wir hingegen haben einen anderen Maßstab: den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des wahren Humanismus.

"Erwachsen" ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und der letzten Neuerung folgt; erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in der Freundschaft mit Christus wurzelt.

Es ist diese Freundschaft, die uns für alles offen macht, was gut ist, und die uns die Richtschnur der Unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen, zwischen Betrug und Wahrheit schenkt. Diesen erwachsenen Glauben müssen wir zum Reifen bringen, zu diesem Glauben müssen wir die Herde Christi führen. Und es ist dieser Glaube, allein der Glaube, der Einheit schafft und sich in der Liebe verwirklicht.

Wahrheit und Liebe in eins

Im Kontrast zu den immer neuen Wechselfällen jener, die wie Kleinkinder von den Wellen hin- und hergeworfen werden, bietet uns der heilige Paulus als grundlegende Formel der christlichen Existenz eine schöne Formulierung an: die Wahrheit in der Liebe tun.

In Christus fallen Wahrheit und Liebe in eins. In dem Maße, in dem wir uns Christus annähern, verschmelzen auch in unserem Leben Wahrheit und Liebe. Die Liebe ohne Wahrheit wäre blind, die Wahrheit ohne Liebe wäre wie ein "dröhnendes Erz".

"Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt", heißt es bei Johannes. Hier erscheint die Dynamik der Existenz des Christen, des Apostels: Ich habe euch dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht.

Wir müssen von einer heiligen Unruhe beseelt sein: der Unruhe, allen das Geschenk des Glaubens, der Freundschaft mit Christus zu bringen. Wahrlich, die Liebe, die Freundschaft Gottes wurde uns gegeben, damit sie die anderen erreiche. Wir haben den Glauben empfangen, um ihn anderen zu schenken - wir sind Priester, um den Anderen zu dienen. Und wir müssen eine Frucht bringen, die bleibt.

Nicht das Geld, sondern die menschliche Seele bleibt

Alle Menschen wollen eine Spur hinterlassen, die bleibt. Aber was bleibt? Nicht das Geld. Auch die Bauwerke bleiben nicht, die Bücher auch nicht. Nach mehr oder weniger langer Zeit vergehen all diese Dinge. Das einzige, was in Ewigkeit bleibt, ist die menschliche Seele, der von Gott für die Ewigkeit geschaffene Mensch.

Die Frucht, die bleibt, ist daher das, was wir in den Seelen der Menschen gesät haben - die Liebe, das Erkennen, die Geste, die das Herz berührt, das Wort, das die Seele für die Freude des Herrn öffnet. Machen wir uns also auf und bitten den Herrn, dass er uns hilft, Frucht zu bringen, eine Frucht, die bleibt. Nur so wird die Erde von einem Tal der Tränen in den Garten Gottes verwandelt.

Unser Dienst ist ein Geschenk Gottes an die Menschen, um seinen Leib aufzubauen - eine neue Welt. Leben wir unseren Dienst auf diese Weise, als Geschenk Christi an die Menschen! Aber ganz besonders in dieser Stunde bitten wir inständig den Herrn, dass er uns nach dem großen Geschenk Papst Johannes Paul II. einen neuen Hirten gemäß seinem Herzen schenkt, einen Hirten, der uns zur Erkenntnis Christi, zu seiner Liebe und zur wahren Freude führt. Amen."

© SZ vom 20.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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