Die Geschichte des Fortschritts lässt sich als Geschichte der Bändigung von Macht und Gewalt schreiben. Zunächst konzentrierten die Staaten die Macht bei sich, um einen anarchischen Zustand zu beenden, in dem der Mensch oft des Menschen Wolf war. Dann wandelten sich absolut regierte Länder zu Verfassungsstaaten, in denen die Macht reguliert und auf mehrere Gewalten verteilt wurde. Auch die Staatsmacht durfte sich nicht mehr willkürlich gegenüber den Bürgern verhalten. Schließlich wurde in den internationalen Beziehungen die Macht eingedämmt. Die Vereinten Nationen oder die Europäische Union, das Völkerrecht und internationale Gerichte dienten dazu, Gewalt zu delegitimieren und die gleichberechtigte, friedliche Lösung von Problemen durchzusetzen. Multilateralismus nennt sich das. Er entspricht in gewisser Weise dem innerstaatlichen Konzept der pluralistischen Demokratie.
Doch nun ist die Erfolgswelle von Pluralismus und Multilateralismus gebrochen. Innerstaatlich erstarken illiberale Noch-Demokratien (Ungarn, Polen) und pseudodemokratische Autokratien (Türkei). Italiens Vizepremier fertigt Kritiker mit einer Parole des faschistischen Diktators Benito Mussolini ab. US-Präsident Donald Trump schmäht alte Verbündete und kuschelt mit brutalen Machtmenschen, als wäre er lieber Putins Pudel als der Anführer der freien Welt. Und China, das die totale Kontrolle sämtlicher Bürger durchsetzt und sein Herrschaftssystem offensiv als Modell anpreist, schickt sich an, Weltmacht Nummer eins zu werden.
Haben die Pluralisten und Multilateralisten schon verloren? Tritt die Welt in eine neue Ära totalitärer Machtausübung ein? Und wird sich diese Ära angesichts der "Fortschritte" von Überwachungs- und Waffentechnik je wieder beenden lassen? Die Vertreter der alten Ordnung reagieren auf diese Fragen ratlos und kleinmütig. Die UN sind von autokratischen Staaten durchsetzt. Die transatlantischen Eliten in den USA scheuen die nötige harte Konfrontation mit Trump. Und die EU, die nun die Prinzipien von Machtkontrolle, Pluralismus und Multilateralismus verteidigen müsste, ist sich nicht einmal darüber einig, was ein Rechtsstaat ist, ob man Ertrinkende retten soll und was der Erhalt des Euro wert ist.
In dieser trostarmen Lage lässt ein Vorstoß des deutschen Außenministers Heiko Maas aufhorchen. Gemeinsam mit seinem japanischen Kollegen kündigte er gerade an, eine "Allianz der Multilateralisten" zu schmieden, um die Weltordnung gegen Nationalisten und Autoritäre zu verteidigen. Vergleichbare Pläne hat es immer mal wieder gegeben. So wird in den USA seit den Zeiten von Präsident Woodrow Wilson vor hundert Jahren über eine Liga der Demokratien diskutiert. Im Jahr 2000 stießen die USA sogar die Gründung einer Allianz der Demokratien an. Ein Machtfaktor ist sie bislang aber nicht.
Doch nun droht das Konzept des freien Westens zu scheitern. Pluralisten und Multilateralisten stehen in der Defensive. Weitere Wahlsiege Trumps in den Vereinigten Staaten und ein Scheitern von Präsident Emmanuel Macron in Frankreich könnten sie in den Abgrund reißen. Daher ist es unerlässlich, dass sich gleichgesinnte Staaten wie Frankreich, Kanada, Japan und Deutschland zusammenschließen, um zu retten, was zu retten ist. Das kann mit einer intensiven Abstimmung beginnen und später in eine Staatenorganisation münden, in der sich gefestigte Demokratien vereinen, um global für Völkerrecht und Menschenrechte, Klimaschutz, Handelsfreiheit und die friedliche Lösung von Streit einzutreten.
Zu idealistisch? Naiv? Womöglich. Aber vielleicht doch der lethargischen Empörung vorzuziehen, mit der viele heute auf den Vormarsch der Nationalisten und Autoritären starren.
Frankreich, Kanada, Japan und Deutschland gehören zu den wirtschaftsmächtigsten Nationen der Welt. Warum sollten sie gemeinsam nicht auch weltpolitisch durchsetzungsfähig werden? Gemeinsam mit einer Reihe gleichgesinnter Staaten erreichen sie eine kritische Masse, um zum Beispiel dem diktatorischen Wohlstandsmodell Chinas ein freiheitliches entgegenzusetzen; um die rechtsstaatliche Kontrolle über Internetgiganten wie Amazon oder Facebook zurückzugewinnen; um globale Aufgaben wie den Umweltschutz oder den Atomvertrag mit Iran auch ohne die USA anzugehen.
Natürlich macht ein solcher Klub der Gleichgesinnten weder die Vereinten Nationen noch die Nato oder gar die Europäische Union obsolet. Auch fehlt ihm die militärische Schlagkraft, um auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren. Aber er kann Werte, Interessen und Kräfte bündeln und so die Weltpolitik positiv beeinflussen. Vor allem aber geht von einem solchen Bund die ermutigende Botschaft aus: Pluralisten, Multilateralisten und alle, die ihr die Macht zum Wohl der Menschen zähmen wollt - ihr seid nicht allein! Viele wichtige Staaten stehen an eurer Seite, um die Idee der freien Welt zu verteidigen.