Wahlkreis Dresden I:In der Warteschleife wächst die Unruhe

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Nach der Wahl ist vor der Wahl: Franz Schönhuber bringt sich in Dresden für die NPD in Stellung, und alle Parteien verlängern ihren Endspurt.

Christiane Kohl

"Am Galgenberg" heißt die schmale, gewundene Straße, die zu dem Dresdner Vorort Lockwitz hinunterführt. Wie Spielzeughäuser aus einer Eisenbahnlandschaft reihen sich dort unten im Tal die kleinen, bieder wirkenden Villen aneinander.

Franz Schönhuber bringt sich in Dresden in Stellung. (Foto: Foto: ddp)

Vor einem Fachwerkhaus in der Ortsmitte stehen ein paar junge Männer mit kurz geschorenen Haaren und rauchen. Plötzlich rasen zwei schwarze Limousinen heran, die Männer springen herbei, um die Wagentüren zu öffnen-heraus steigen Franz Schönhuber und ein paar Funktionäre der rechtsextremen NPD.

Der Bayer, 82 Jahre alt, ehemals stellvertretender Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks sowie Gründer der ultrarechten Republikaner, ist an diesem Mittwochabend gleichsam als letztes Aufgebot der sächsischen Rechtsradikalen erschienen: Nach dem Tod der Dresdner NPD-Kandidatin Kerstin Lorenz, der zu einer teilweisen Verschiebung der Bundestagswahl in der Elbestadt führte, soll Schönhuber in den kommenden zwei Wochen für die NPD auf Stimmenfang gehen - denn nach der Wahl ist in Dresden vor der Wahl.

"Notbekanntmachung"

Während andernorts die Parteien gerade den Endspurt für die Bundestagswahl am Sonntag bestreiten, beginnen in der Sachsenmetropole schon die Planungen für den Tag danach. Da sitzt der Kreiswahlleiter Detlef Sittel in seinem mit braunem Holz getäfelten Amtszimmer im Rathaus und tüftelt mit seinen Mitarbeitern die Organisation der kommenden zwei Wochen aus.

Im Wahlkreis Dresden II, der die Gebiete nördlich der Elbe bis in Richtung Meißen umfasst, wird ganz nach Plan am Sonntag gewählt. Für den Wahlkreis Dresden I - dazu gehören die Altstadt sowie die großen Wohngebiete am Südufer des Flusses - musste Sittel hingegen am Donnerstag eine "Notbekanntmachung" herausgeben.

Das Plakat sollte ganz traditionell im Rathaus und in verschiedenen Ortsämtern ausgehängt werden, um so die geänderte Kandidatenliste entsprechend dem Wahlgesetz zu veröffentlichen: Statt der Kandidatin Lorenz, die an einer Gehirnblutung starb, ist jetzt Franz Schönhuber darauf vermerkt. Und wenn am Sonntagabend im Rest der Republik die Stimmen ausgezählt werden, lässt der Kreiswahlleiter Sittel schon mal die neuen Wahlzettel sortieren - ab Montag sollen sie verfügbar sein, weil dann bereits die Briefwahlfrist für die auf den 2. Oktober festgesetzte Nachwahl in Dresden beginnt.

Nicht mit allem einverstanden

Sittel, der im Range eines Bürgermeisters steht und für Ordnung und Sicherheit in Dresden zuständig ist, erwartet keine organisatorischen Probleme bei der Nachwahl: "Es ist der vierte Urnengang für uns in den letzten 15 Monaten, da bekommt man eine gewisse Routine", meint der CDU-Politiker, der 38 ist, ursprünglich aus Westfalen kommt, einen auffällig geraden Scheitel und eine Goldbrille trägt. Nach Kommunal- und Landtagswahlen sowie einer groß angelegten Bürgerbefragung in Dresden könne sich allenfalls eine gewisse Wahlmüdigkeit unter den Bewohnern breit gemacht haben - "da kann man nur hoffen, dass die Leute trotzdem wählen gehen", sagt der Ordnungshüter Sittel.

Zwar hatte die NPD das ganze Prozedere ausgelöst. Indes dürfte die Partei außer einem vorübergehenden Blitzlichtgewitter rund um den Kandidaten Schönhuber aus der Nachwahl kaum einen besonderen Nutzen ziehen können: Der Bayer hat keine Chance, als Direktkandidat gewählt zu werden, selbst wenn er einen Achtungserfolg erzielen sollte. Die NPD sitzt in Sachsen zwar im Landtag und auch im Dresdner Stadtrat.

Landesweit wird sie auf etwa sechs Prozent taxiert. Doch die Partei könnte allenfalls einen Kandidaten über die Landesliste durchbringen, wenn es ihr bundesweit gelänge, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. In einer ersten Pressekonferenz am Donnerstag setzte sich Schönhuber überdies dezent von den ultrarechten NPD-Funktionären ab: "Ich bin ein Europäer", erklärte er, gegen Ausländer habe er nichts, und auch sonst sei er "nicht mit allem einverstanden", was im NPD-Programm verbreitet werde.

Während Schönhuber den Ausflug nach Dresden eher sportlich als "letzten Kampf" betrachtet, könnte für den CDU-Kandidaten Andreas Lämmel die Nachwahl eine Weichenstellung für die Zukunft sein: Nur wenn er das Direktmandat im Wahlkreis Dresden I gewinnt, kann der gelernte Konditor und studierte Ingenieur in den Bundestag einziehen, denn auch er ist nicht abgesichert über die Landesliste.

Freilich hat Lämmel, 46, in dem Wahlkreis zwei recht starke Gegnerinnen: die SPD-Kandidatin Marlies Volkmer, die beim letzten Mal mit etwa 31 Prozent ganz knapp den Wahlkreis verlor, und die Spitzenkandidatin der neuen Linkspartei Katja Kipping, deren Mutterpartei PDS vor drei Jahren schon allein auf circa 20 Prozent der Stimmen gekommen war.

Alle drei Kandidaten haben mithin die Chance, den Wahlkreis Dresden I für sich zu entscheiden. Einzig für die CDU hätte dies jedoch messbar positive Folgen: Die Christdemokraten könnten ein Überhangmandat in Dresden gewinnen und damit einen zusätzlichen Sitz im Bundestag.

Beeinflussung befüchtet

Für SPD und Linkspartei würde sich hingegen an der Gesamtzahl der Sitze nichts ändern. Und so mag es verständlich sein, dass sich der Kandidat Lämmel zurzeit mit am lautesten über das durch den Bundeswahlleiter angeordnete Prozedere beschwert - weil den Dresdnern das Gesamtergebnis bereits bekannt sein werde, "sei eine unbeeinflusste Wahl" am 2. Oktober kaum gesichert, fürchtet Lämmel.

Doch wer sind überhaupt die Wähler, die da mit zweiwöchiger Verspätung zur Urne gebeten werden? "Lauter liebe, gefestigte Leute, die sich mit ihrer Stadt und dem Land identifizieren", sagt Reinhard Kupke von der Wohnungsgenossenschaft "Aufbau". In den rund 17300 Wohnungen, die zu seiner Gesellschaft gehören, leben vermutlich mehr als zwölf Prozent der rund 219400 Wahlberechtigten im gesamten Wahlkreis Dresden I. Die Genossenschaft ist eine der ältesten in Deutschland, und sie ist noch ein Relikt der alten DDR: "Wir haben die Führungsebenen hier nicht ausgewechselt", erklärt der Verwaltungschef, "und das war gut so."

Quer über Dresden verteilt verwaltet Kupke sowohl gründerzeitliche Gebäude als auch Plattenbausiedlungen. Anfragen von Parteien, die in einem der Räume und Begegnungsstätten der Genossenschaft Veranstaltungen abhalten wollten, gab es in den letzten Wochen viele. "Ich habe sie in jedem Fall untersagt", sagt Genossenschaftschef Kupke, der sich heute Vorstandsvorsitzender nennt. Darüber, welche Partei seine Anteilseigner wohl wählen werden, will Kupke nicht spekulieren. "Es sind beständige Leute, ihr Durchschnittsalter liegt bei 55", meint er-den Rest könne man sich wohl denken.

Wo die Grünen zittern

Tatsächlich gilt der Wahlkreis als einigermaßen inhomogen. Das lässt sich schon an der Arbeitslosenstatistik ablesen: Da gibt es ehemals industriell geprägte Viertel im Westen der Altstadt mit Arbeitslosenzahlen um die 20 Prozent, hingegen liegt die Quote im noblen Stadtteil Blasewitz bei etwas über sechs Prozent.

Die PDS hat ihre wichtigsten Stimmbezirke offenbar in der Inneren Altstadt, gleich um die Ecke von Zwinger und Schloss-in die Plattenbauten an der Prager Straße durften einst nur politisch verlässliche Leute einziehen, die oftmals noch heute dort leben. Hingegen ist die CDU vor allem in dem Villenviertel Blasewitz stark. Hier haben allerdings auch die Grünen ihre Hochburg. Und deshalb müssen jetzt vor allem sie wegen der Nachwahl in Dresden zittern.

"Etwa ein Viertel aller grünen Stimmen in Sachsen holen wir in Dresden", erklärt der Fraktionspressesprecher Andreas Jahnel. Bei der letzten Bundestagswahl hatten die Grünen zwei Bundestagssitze in Sachsen bekommen. "Am 18. September kann es deshalb zunächst nur einer sein", sagt Jahnel-und was dann am 2. Oktober passiert, wird man sehen.

© SZ vom 16.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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