Wahl in der Türkei:Lauter Verlierer

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Ein machthungriger Präsident, der aus seinen Fehlern nicht lernen will, und ein müder Oppositionschef - die Türken hoffen, dass es nach der Parlamentswahl nicht noch schlimmer kommt.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Hat Präsident Erdoğan nicht alles für dieses Land getan? Fehlt denn wirklich was? Wenn Sadullah Mutlu von seinem Gartenhäuschen ins Tal blickt, dann kann er nicht erkennen, dass etwas fehlt.

Mutlu zeigt auf die neuen Schulen, die Recep Tayyip Erdoğan hat bauen lassen. Er zeigt auf die neue Moschee, rechts, ganz oben auf dem Berg, der so spitz zuläuft wie ein neuer Bleistift. Das Land ist immer in Bewegung. Unten im Tal schieben die Baumaschinen Kies hin- und her. Mutlu verteilt Gläser für den Tee. Seine Frau Emine sagt: "Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, dass ich Erdoğan nicht liebe?"

Liebe. Kurz vor der Wahl ist das ein Wort, das man in der Türkei nicht mehr so oft gehört hat, wenn man mit den Menschen über Erdoğan gesprochen hat. In Güneysu, dieser Stadt am Schwarzen Meer, ist das etwas anderes. Von hier kommt Erdoğans Familie. Seine Partei, die AKP, erreicht dort bei Wahlen fast 85 Prozent. Gegenüber vom Haus der Mutlus steht Erdoğans Sommerhaus. Die Fensterläden sind zu. Der Hausherr ist in Ankara. Seine Ferien hat der Staatspräsident schon als Kind an der Schwarzmeerküste verbracht. "Wir haben ihn mit großgezogen", sagt Emine. Einen wie Erdoğan habe das Land noch nicht erlebt. "Seine Zeit ist noch lange nicht vorbei", sagen die Mutlus.

Wahltag in der Türkei, der zweite in diesem Jahr schon. Weil das Land eben nicht nur Güneysu ist.

Die Regierung unternahm alles, die HDP in die Nähe von Terroristen zu rücken

Gegen 19 Uhr flimmern die ersten Ergebnisse über die Bildschirme. Die AKP soll bei etwa 50 Prozent liegen. Ist die Welt jetzt wieder in Ordnung? In der Istanbuler Parteizentrale rufen die Anhänger: "Die Türkei ist mit Dir." Und dann singen sie: "Recep Tayyip Erdoğan".

Am 7. Juni hatten die Türken schon einmal ein neues Parlament gewählt. Aber Erdoğan akzeptierte das Ergebnis nicht. Seine AKP hatte fast zehn Prozent eingebüßt, schlimmer noch war dies: Sie konnte die Türkei nicht mehr alleine regieren. Das erste Mal seit 2002.

Die pro-kurdische Partei HDP war neu im Parlament. Mit 13 Prozent hatte ihr Vorsitzender Selahattin Demirtaş die Zehn-Prozent-Hürde genommen. Schon in der Nacht feierten viele die Geburtsstunde einer "neuen Türkei". Es folgten fürchterliche Monate. Die Koalitionsgespräche scheiterten, weil sich die AKP nicht in ihr Schicksal fügen wollte. Die Regierung kündigte den von Erdoğan begonnenen Friedensprozess auf. Es herrscht wieder Krieg zwischen Armee und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die HDP ist als politische Vertretung zwischen die Fronten geraten. Die Regierung hat alles unternommen, die Partei von Demirtaş in die Nähe der Terroristen zu rücken, damit sie als Machtfaktor wieder verschwindet.

Bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr haben die türkischen Wähler am Sonntag ihre Stimme abgegeben. (Foto: Murad Sezer/Reuters)

Als Demirtaş am Sonntag im Istanbuler Stadtteil Sultanbeyli seine Stimme abgibt, wirkt er erschöpft. Die vergangenen Monate haben ihm zugesetzt. Er hat seine Leichtigkeit verloren, mit der er Erdoğan herausgefordert hatte. Erdoğan wollte sich per Verfassungsänderung zum Superpräsidenten des Landes machen. Er wollte das politische System seinem Machthunger anpassen. Demirtaş machte Wahlkampf mit dem Versprechen, dies nicht zuzulassen.

Die regierende AKP hat aus der Wahlniederlage wenig Konsequenzen gezogen

"Das Volk sehnt sich nach Frieden", sagt er am Sonntag. Dieser Wahlkampf hat Leben gekostet, sehr viele sogar. Parteizentralen der HDP gingen in Flammen auf. Beim Terroranschlag von Ankara mit mehr als 100 Toten kamen besonders viele HDP-Anhänger und zwei Kandidaten für die Parlamentswahl um. Die Miliz Islamischer Staat wird als Drahtzieher vermutet. Danach hat die HDP Großkundgebungen abgesagt. Wie will man sich nach einem solchen Wahlkampf überhaupt noch als Sieger fühlen, wenn man so viel verloren hat?

Die AKP ist ganz die alte geblieben. Ende vergangener Woche besetzte die Regierung mit Polizeigewalt kritische Medien. Neu ist, dass Erdoğan in den vergangenen Wochen nicht mehr so laut von der Superpräsidentschaft gesprochen hat. Aufgegeben hat er diesen Plan nicht. Erdoğan sagt am Sonntag: "Es hat sich gezeigt, wie wichtig Stabilität für unser Land ist." Die AKP wurde mal gewählt, weil sie dem Land gut bekam. Jetzt sagen einem AKP-Wähler, sie wollten, dass es nicht noch schlimmer kommt. Aus der Wahlniederlage vom 7. Juni hat sie wenig Konsequenzen gezogen. Sie hat in jenen Wahlkreisen, wo sie im Juni ganz knapp verlor, ein paar Kandidaten ausgetauscht. Minimalinvasiv ist sie vorgegangen. Erdoğan ließ die Gelegenheit zum Umbau verstreichen. Ahmet Davutoğlu, Premier, Parteichef und Vollstrecker von Erdoğans Willen, durfte die Partei ein zweites Mal in die Wahl führen. Eine gute Figur hat er nicht gemacht. Nach dem Anschlag von Ankara sagte er allen Ernstes, dass man potenzielle Selbstmordattentäter zwar kenne, aber sie nicht festsetzen könne, solange sie nichts täten. Auf seinen Wahlkampftouren versprach er ledigen Männern, die AKP könne bei der Partnerwahl helfen. Scheint so, als ob dies alles sei, was dem Land zum Glück fehlte.

© SZ vom 02.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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