Wählerwanderung:Neue Heimat rechts

Lesezeit: 5 min

Viele SPD-Wähler wechseln zur AfD, die Gründe reichen von der Abneigung gegen Akademiker bis zur Angst um die Rente. Eine Motivsuche an Münchner Stammtischen und im Berliner Kiez.

Von Leila Al-Serori und Hannah Beitzer, München

Viel zu viele Menschen drängen sich in dem dunklen Hinterraum im Gasthaus "Zum Alten Wirt" im Münchner Stadtteil Obermenzing. Auf den karierten Tischdecken stehen "Mut zur Wahrheit"-Wimpel, über der Holzvertäfelung hängen Hirschgeweihe. Die Veranstalter hatten ein Dutzend Gäste erwartet, gekommen sind zum Infoabend des AfD-Kreisverbands München-West mehr als 40. Und das, obwohl es ein heißer Sommertag ist, die Grillen zirpen durchs Fenster herein.

Am Nebentisch sitzt Frau Kraft, eine Rentnerin mit kurzen grauen Haaren. Sie war früher in der SPD aktiv, ist nun AfD-Mitglied, geht zu Pegida-Demos - auch wenn sie dort von Antifa-Aktivisten angebrüllt wird. "Ich bin nicht fremdenfeindlich. Mein Vater war im KZ", sagt sie. Aber die SPD habe sich stark verändert. "Die SPD war mal eine Arbeiterpartei. Aber das ist lange her." Ganz vorbei sei es für sie gewesen, als die SPD mit den Grünen koalierte. "Das sind ja Kommunisten mit Uni-Abschluss." Dagegen sei die AfD "die neue Partei der Mittelschicht". Dann wird Frau Kraft laut: "Wir haben uns etwas erarbeitet! Das darf man uns nicht wegnehmen. Nur die AfD hat das erkannt."

Dass in der SPD Arbeiter und soziale Aufsteiger seltener werden, bringt auch Bruni Wildenhein-Lauterbach zum Seufzen. Die Berliner SPD-Politikerin kandidierte bei den Landtagswahlen in der roten Hochburg Wedding, zum dritten Mal schon. In ihrem Kiez bleibt die SPD trotz Verlusten stärkste Kraft, aber Wildenhein-Lauterbachs Konkurrent von der AfD bekommt auf Anhieb 14,3 Prozent der Stimmen, in vielen sozial schwachen Bezirken am Stadtrand sind es noch weit mehr. In ganz Berlin verliert die SPD 24 000 Stimmen an die Alternative für Deutschland, 12 000 wechselten von der Linkspartei zur AfD. Die Rechtspopulisten sind überproportional bei Arbeitslosen und klassischen Arbeitern vertreten, eigentlich die Stammklientel linker und sozialdemokratischer Parteien.

Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen sind heute selten in der SPD

Dass es diese Leute nun zur AfD treibt, beschäftigt auch Bruni Wildenhein-Lauterbach. Sie kennt das Milieu gut, das Frau Kraft aus München in der AfD vertreten sehen will - weil sie ihm selbst entstammt. Ihr Vater, der während der Nazi-Zeit im Widerstand aktiv war, wurde im chaotischen Nachkriegs-Berlin erschlagen, als die Mutter gerade mit Bruni schwanger war. Wildenhein-Lauterbach weiß, wie es ist, sich etwas zu erarbeiten. Sie machte erst eine Ausbildung zur Verkäuferin, heiratete, bekam Kinder. Dann schulte sie um auf Altenpflegerin, trennte sich von ihrem Mann. Und war über die Zustände in der Pflege so empört, dass sie sich der Gewerkschaft anschloss. Ende der 80er-Jahre trat sie der SPD bei. Seit 2006 sitzt die 69-Jährige im Abgeordnetenhaus und wird dort noch fünf weitere Jahre den Wedding vertreten.

Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen, das gibt sie zu, seien heute allerdings selten in der SPD. "Ich würde sagen: Gefühlt haben 80 Prozent Abitur, die meisten sind Akademiker." Dass die SPD keine Arbeiterpartei mehr ist, findet Wildenhein-Lauterbach grundsätzlich nicht schlecht. "Ich hatte damals als Tochter einer Alleinerziehenden gar nicht die Möglichkeit, Abitur zu machen. Es ist doch gut, wenn heutzutage Leute diese Chance haben und ergreifen."

Aber es gibt ja auch noch jene, die den Aufstieg nicht schaffen, keinen Bildungsabschluss haben und erst recht keine Ausbildung. Unter diesen Leuten kennt Wildenhein-Lauterbach einige, die ihr stolz verkündeten, die AfD wählen zu wollen. "Junge Männer, die Hartz IV beziehen." Auch viele ältere Menschen sympathisierten mit der AfD. "Die frage ich: Sie wollen doch nur, dass mal jemand für Ordnung sorgt, oder?" Meistens hat Wildenhein-Lauterbach recht. "Die Leute sind in einer ganz anderen Zeit aufgewachsen", sagt sie. Einer Zeit- wie Frau Kraft meint -, in der ehrliche Maloche mehr wert war als ein Wischiwaschi-Studium. Wildenhein-Lauterbach teilt diese Nostalgie nicht. Doch sie weiß auch, woher sie kommt. Viele seien heute im Alter einsam, die Kinder sind aus dem Haus, die Rente ist gering. "Den Anschluss an die heutige Zeit finden sie maximal noch über den Fernseher", sagt sie. Und was sie dort zu sehen bekämen, sei Gewalt, Krieg, Chaos, Unsicherheit, Flüchtlinge.

Wer allerdings Zeit mit AfD-Sympathisanten verbringt, erkennt, dass Menschen wie Frau Kraft nur für einen Teil der Unterstützer stehen. Zu den vielen AfD-Stammtischen in Berlin und München kommen vor allem Vertreter eines gutbürgerlichen, gebildeten Milieus. Da sitzt der Finanzberater mit Rolex neben dem Anwalt im Ruhestand, neben der Hausfrau, die sich im Alter engagieren will. Sie diskutieren über Putin, zitieren Ökonomen, verteufeln die USA und wünschen sich die Flüchtlinge weg. Die meisten am Stammtisch sind älter als 50 Jahre, die Männer leicht in der Überzahl, die Hemdenträger auch. Zwischen ihnen sitzt hin und wieder jemand wie Frau Kraft, der sich ein wenig Wohlstand erwirtschaftet hat - und panische Angst verspürt, diesen wieder zu verlieren.

Vergebliches Werben: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller verlor 24 000 SPD-Wähler an die AfD. (Foto: Fabrizio Bensch/Reuters)

"Aus allen Schichten und Altersklassen strömen die Leute zur AfD", sagt auch der Sozialwissenschaftler David Bebnowski vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. "Den Rassismus darf man nicht wegdiskutieren. Aber viele ihrer Wähler sehen sich vor allem ihrer eigenen Lebenschancen beraubt. Sie sind frustriert über das politische System. Die AfD ist für sie ein Stachel im Fleisch der etablierten Parteien, eine Möglichkeit zum Protest."

Allen gemeinsam ist eine Ablehnung von Merkels Flüchtlingspolitik, ein großes Unbehagen der EU gegenüber, ein nostalgisches Schwärmen, wenn es um die Vergangenheit geht. "Wir waren mal Exportweltmeister", wird am Stammtisch in Obermenzing geklagt. Dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf dem tiefsten Stand seit 25 Jahren ist, sei "alles nur Lüge".

Etwa zwei Drittel der Mitglieder im Kreisverband München-West waren vorher in keiner Partei, fanden erst in der AfD ihre Heimat, sagt Markus Walbrunn, der Organisator des Infoabends. Motive für den Parteieintritt seien die "Masseneinwanderung", die Probleme mit der Integration. Der Bürokaufmann studiert derzeit, für die AfD, die im bayerischen Landtag bisher nicht vertreten ist, führt er ehrenamtlich den Kreisverband. Und er sagt: "Die meisten von uns spüren eine Entfremdung von der Heimat. Es verändert sich vieles in eine Richtung, die uns nicht gefällt."

Ähnliches beobachtet der Berliner Jungpolitiker Andreas Wiedermann. Der 34-Jährige ist wie Wildenhein-Lauterbach ein Aufsteiger, wie es die SPD gerne sieht. Seine Eltern sind ungelernte Arbeiter, er selbst machte Abitur und studierte Geschichte und Philosophie. Als Teenager stieß er zur SPD, kandidierte für das Abgeordnetenhaus. Doch zu einem Sitz reichte es nicht in der Stadt, in der die SPD so viele Stimmen verlor. Und so manches, was die SPD-Stammklientel umtreibt, befremdet ihn. "Zurzeit höre ich von vielen ehemaligen SPD-Wählern: Warum sollen wir eigentlich arbeiten, und die Flüchtlinge kriegen ihr Geld einfach so?", erzählt er aus dem Wahlkampf. Mehr noch als Hartz IV verärgere die alten SPDler der Vorschlag einer Rente mit 67. "Damit haben wir die Arbeiter vergrault, die stolz auf ihre Lebensleistung sind."

Auch AfD-Experte Bebnowski sagt, die SPD habe sich in den 90er-Jahren von der Arbeiterschicht verabschiedet. "Sie hat sozusagen ihren Markenkern aufgegeben. Die sogenannten kleinen Leute fühlen sich und ihre Interessen nicht mehr in der SPD vertreten." Das Versprechen vom "Aufstieg durch Bildung" komme bei vielen nicht an. Dass der soziale Status von Bildung abhängen solle, werde von Arbeitern und Arbeitslosen, die ja als Bildungsverlierer gälten, eher als Bedrohung angesehen.

Die AfD-Wähler eint auch das Gefühl, für ihre Einstellung geächtet zu werden

Und viele vom alten SPD-Markenkern sitzen nun gemeinsam mit Rechtsanwälten und Professoren an einem Stammtisch in München und sagen: Wir haben uns alles hart erarbeitet. Das nimmt uns keiner weg. Egal ob Flüchtlinge, der Staat oder sonst irgendwer. Wenn der Name Merkel fällt, lachen sie höhnisch und buhen. Es ist auch der Protest gegen ihre Politik, der die Menschen aus allen Lagern und Schichten herbringt. Zusätzlich eint sie eines: das Gefühl, für ihre politische Einstellung geächtet zu werden.

"Wenn die AfD scheitert, ist es aus mit uns!" Mit Deutschland sei es dann aus, meint die Stammtischrunde natürlich. Und zwar nicht mit dem heutigen Deutschland, an dem sie so viel auszusetzen hat, sondern mit einem Deutschland, das sie sich mit verklärtem Blick zurückerträumt.

© SZ vom 28.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: