Vor der Wahl:Rechnen mit einem Gespenst

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Die SPD-Spitze denkt an eine große Koalition, die kleinen Parteien nutzen das Szenario zu ihrem Vorteil.

Von Jens Schneider

Seit Anfang dieser Woche geistert ein politischer Begriff in Berlin umher. Er bewegt sich, einem Gespenst gleich, im Untergrund, und taucht nur gelegentlich auf. Er ist Teil mancher Gedankenspiele, offen darüber reden wollten zumindest bis zum Wochenende die wenigsten. Es ist das Gespenst einer großen Koalition.

Als die SPD-Spitze am Sonntag direkt nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses von Nordrhein-Westfalen das Ziel baldige Neuwahlen ausgab, wirkte das zunächst, als wollten Franz Müntefering und Gerhard Schröder mit diesem Coup die Konfrontation der letzten Wochen zuspitzen: die Politik von Rot-Grün auf der einen Seite gegen die Konzepte von Schwarz-Gelb auf der anderen.

Doch konnte sich jeder leicht ausrechnen, dass dies wohl ein ziemlich ungleicher Wettkampf sein würde. Allzu groß ist der Vorsprung von CDU und FDP in den Umfragen. Und weil das ja schließlich auch die Spitzen der Sozialdemokraten wissen mussten, brauchte es nicht furchtbar viel Phantasie, auf ihrer Seite eine andere Kalkulation zu vermuten - nämlich so stark werden zu wollen, dass die CDU/CSU sie als Partner nehmen muss.

Als Bestätigung dafür, dass die SPD-Spitze durchaus intensiv an eine große Koalition denkt, konnte von Dienstag an auch die Eile und verblüffende Konsequenz verstanden werden, mit der sie die rot-grüne Verbindung aufkündigte.

Seit Freitag wird nun ganz offen darüber gesprochen. Der SPD-Vorsitzende Müntefering hat gegenüber dem Spiegel eine große Koalition für möglich erklärt und sich zugleich klar von den Grünen abgegrenzt.

Eine Koalition mit der Union sei "keine Sünde, aber nichts, was ich suche", sagte Müntefering. "Das gibt es in Schleswig-Holstein, und das hat es auch auf Bundesebene schon einmal gegeben", erklärte der SPD-Vorsitzende zu dieser Option, die sonst eher als Notlösung angesehen wird. Während es auf Bundesebene bisher erst einmal - Ende der sechziger Jahre - eine große Koalition gab, sind Bündnisse zwischen CDU und SPD auf Landesebene häufiger.

Zweckbündnis, keine Liebesheirat

Derzeit regieren beide Parteien gemeinsam in Brandenburg, Bremen, Sachsen und Schleswig-Holstein. Zugleich relativierte Müntefering im Nachhinein die Bedeutung von Rot-Grün: Das Bündnis sei schon 1998 eine "zufällige Koalition" gewesen. Es handele sich um ein Zweckbündnis und keine Liebesheirat.

Genährt werden die Spekulationen über eine große Koalition zudem durch die Wiederkehr Oskar Lafontaines. Mit ihm stiegen die Chancen einer im Schlepptau der PDS antretenden Linkspartei, mehr als fünf Prozent einzufahren. Die Rechnung für diesen Fall lautet dann: Je mehr Prozentpunkte die Linke, die Grünen und die SPD zusammen erreichen, desto schwerer wird es für CDU und FDP, eine Mehrheit zu bekommen.

Deshalb dürften auch die kleineren Parteien das Thema große Koalition zunehmend für die eigene Sache nutzen. Die FDP wird sich als Garant dafür anpreisen, dass es nicht dazu kommt - ebenso die Grünen. Allein in der Union wird eine große Koalition als fernes Gespenst betrachtet. Entspannt blickt man bei CDU und CSU auf die aktuellen Umfragen: Schwarz-Gelb liegt weit vorn.

© SZ vom 28.5.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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