Vor der Abstimmung über Sozialgesetz:Russen demonstrieren gegen Reform

Lesezeit: 2 min

Putins Regierung will die Sondervergünstigungen aus Sowjet-Zeiten für 32 Millionen Bedürftige abschaffen. Stattdessen Moskaus sollen jetzt die ohnehin schon verarmten Regionen für die Sozialschwachen aufkommen.

In Russland haben landesweit Gewerkschafter, Lehrer und Behinderte gegen Einschnitte in der Sozialpolitik demonstriert. Vor dem Regierungssitz in Moskau protestierten am Donnerstag nach Veranstalterangaben etwa 300 Menschen, die unter den Spätfolgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl leiden. Auch aus der Stadt Barnaul und weiteren Regionen Sibiriens wurden Kundgebungen gemeldet.

Die Demonstranten forderten die Abgeordneten der Staatsduma auf, am Freitag gegen einen Gesetzentwurf über die Umwandlung sozialer Garantien in finanzielle Entschädigungen zu stimmen. Die Regierung will die Finanzierung von Sozialleistungen für etwa 32 Millionen Bedürftige neu aufteilen. Vor allem in finanzschwachen Gebieten wächst die Sorge, dass Moskau die Kosten für Krankenversorgung, öffentlichen Nahverkehr oder Mietzuschüsse auf die Regionen abwälzen will.

Die Vorschläge der Regierung haben in der Öffentlichkeit Verwirrung gestiftet und Angst vor Benachteiligungen geschürt. Im Kern sieht die Sozialreform vor, aus Sowjetzeiten geerbte Sondervergünstigungen wie mietfreie Wohnungen für schlecht bezahlte Dorfschullehrer oder kostenlose Busfahrten für Veteranen abzuschaffen und stattdessen Ausgleichszahlungen zu leisten. Nach Schätzungen des Finanzministeriums haben in Russland etwa 32 Millionen Menschen Anspruch auf Vergünstigungen oder Beihilfen. Dazu zählen auch Soldaten, Familien verstorbener Sowjethelden, bestimmte Rentnergruppen, Feuerwehrleute und viele andere Berechtigte, die im Russischen "Lgotniki" genannt werden.

Kindergeld wird nicht mehr ausgezahlt

Der Chefökonom der Weltbank in Russland, Christof Rühl, lobte den Grundgedanken der Sozialreform. "In diesem Bereich sind Geldtransfers besser als Sachleistungen", sagte der deutsche Experte. Die Anwendung drohe aber sehr teuer zu werden, da in dem neuen Gesetz die Gruppen der Anspruchsberechtigten nicht klar definiert seien.

Mit der neuen Regelung sollen öffentliche Dienstleister wie Krankenhäuser, Kommunalverwaltungen oder Nahverkehr aus der Finanznot befreit werden. Bislang wurden deren Budgets extrem belastet, weil sie gemäß Gesetz viele Kunden gratis versorgen mussten. Presseberichten zufolge sollen die Anspruchsberechtigten zwischen 800 und 3500 Rubel (23 bis 100 Euro) monatlich erhalten.

Unklar ist noch, welche "Lgotniki" in Zukunft ihr Geld aus dem im Vergleich zu den meisten Regionalbudgets üppigen Zentralhaushalt bekommen. "Zentral" bezahlt werden sollen unter anderem die Träger eines "Heldenordens", Kriegsveteranen und auch die Liquidatoren der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Die größten Probleme drohen den ärmeren Regionen des Landes. In der westrussischen Region Brjansk zum Beispiel muss der örtliche Haushalt bald für 90 Prozent der Anspruchsberechtigten aufkommen. Die übrigen zehn Prozent erhalten aus Moskau ihr Geld. "Wir können schon jetzt nicht das Kindergeld auszahlen", sagte die für Brjansk in den Föderationsrat entsandte Politikerin Walentina Djomina. "Wie wird das nur erst mit den Lgotniki werden?"

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: