Visa-Affäre:Wilde Tage in Kiew

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Fassungslos beobachtete der deutsche Polizist Claus Leber im Frühjahr 2002 die Visa-Vergabe an der deutschen Botschaft in Kiew. Seine Briefe an die Heimat dokumentieren das Chaos und die Hilflosigkeit der Diplomaten vor dem Ansturm der Reisewilligen.

Von Hans Leyendecker

München - In den wilden Tagen in Kiew war der Polizist Claus Leber der grenzpolizeiliche Verbindungsbeamte an der Botschaft und seine Briefe an die Heimat sind aufschlussreich. So schilderte er ziemlich fassungslos am 15. März 2002 der Bundesgrenzschutzinspektion Görlitz in einem dreiseitigen Brief den Alltag bei der Visa-Vergabe.

Die Zahl der Visaantragsteller habe sich in den vergangenen Wochen verdreifacht. "Dieser Anstieg fällt interessanter Weise mit dem Runderlass des Auswärtigen Amtes vom 29. Januar 2002 zusammen, wonach bei Vorlage eines Reiseschutzpasses keine weitere Bonitätsprüfung des Antragstellers mehr zu erfolgen habe."

Reiseschutzpässe, die praktisch eine Garantie für Visa waren, würden "durch Repräsentanten lokaler Reiseunternehmen direkt auf der Straße vor der Visastelle verkauft. (...) Die Visaantragsteller übernachten vor den Eingängen, um am Folgetag als Erste in die Visastelle zu gelangen. Die Straßen und Wege sind mit Pkw und Bussen zugestellt, da die Personen aus der gesamten Ukraine hierher anreisen. (...) Ebenso hat sich eine regelrechte Infrastruktur herausgebildet.

"Aggressive Stimmung"

Neben dem vorhandenen Supermarkt existieren mittlerweile zahlreiche Buden mit Lebensmitteln, eine Gepäckaufbewahrung sowie öffentliche Toilettenanlagen auf dem Gehsteig. Zahlreiche Reisebüros haben sich in den umliegenden Wohnblöcken angesiedelt, ebenso die offizielle Haltestelle der europäischen Buslinie Kiew-Frankfurt der Deutschen Touring GmbH.

Zwischenzeitlich musste die Miliz, die zum Schutz eingesetzt ist, verstärkt werden; gelegentlich sogar unter Mitführen von Schusswaffen, was vorher nicht der Fall gewesen war. Eine aggressive Stimmung der Visaantragsteller untereinander hat sich entwickelt".

Es gebe "unerwünschte Strukturen". Die Reihenfolge des Zugangs zur Visastelle, beobachtete Leber, werde von Leuten aus dem Milieu "reguliert". Handgreifliche Auseinandersetzungen kämen immer wieder vor, auch unter Beteiligung der Miliz.

Politikum Visaerteilung

"Eine Kanalisierung/Koordinierung der Visaantragsteller ist kaum mehr möglich; die fachgerechte Einzelfallprüfung bei sechs Entsandten und täglich 1300 bis 1500 Visaanträgen ist schier unmöglich. (...) Da das Thema Visaerteilung an der Botschaft in Kiew zu einem Politikum geworden ist, erfolgt jedwedes Vorgehen erst nach Rückfrage im Auswärtigen Amt.

Derzeit wird seitens der Botschaft auf die Modifizierung des Runderlasses vom März 2000 hingewirkt, um wieder eine halbwegs praktikable Handhabe zur Visaversagung zu erlangen."

Es dauerte dann noch ein Jahr, bis die Reiseschutzpässe abgeschafft wurden. Der Erlass vom März 2000, der die Reisefreiheit so belebt hatte, wurde im Oktober 2004 aufgehoben.

© SZ vom 16.2.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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