Verdammte Gewalt:Angriff gegen die "Bastion des Absurden"

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Die französische Vorstadtrevolte offenbart die Grenzen der Integrationspolitik und steht symptomatisch für die Verfehlungen der gesamten westlichen Welt.

Clemens Pornschlegel

Ausgebrannte Autowracks, zerstörte Schulen, wütende Jugendbanden: die Bilder, die man momentan aus den französischen Vorstädten geliefert bekommt, sind nicht neu. Man kennt sie seit Ende der achtziger Jahre aus den Vorstadtvierteln von Strasbourg, Mulhouse, Marseille, Mantes-la-Jolie, Lyon, Lille.

Hunnen als Helden? Plattencover der French-Rapper IAM. (Foto: N/A)

Die Revolten verlaufen stets nach demselben Muster. Die Polizei verfolgt Jugendliche, ein 'Unfall' fordert Opfer, der aufgestaute Zorn bricht sich Bahn. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist die Banlieue für Diskussionen und Lohnforderungen gut.

Vor allem die Texte des French Rap, von IAM bis NTM, von Alliance Ethnik bis Menelik, haben mit jeder neuen CD aus der Betonwelt berichtet, die an den urbanen Peripherien wuchert.

Man hätte nur die Krieger-Embleme auf den CD-Covern betrachten müssen. Über den wummernden Basslinien öffnet sich ein Universum aus post-kolonialen Familiendesastern, Wut, Rassismus, Drogen und Gewalt. Es geht um Dealer, Nutten, Langeweile, geklaute BMWs und Gefängnisse.

Endlosschleife des Gewohnten

Darüber hinaus geht es um Zuflucht im Islam, um den Stolz auf die Herkunft, um die Hoffnung, dem Ghetto zu entkommen und, vor allem, um eine "raison de vivre", um einen Grund zum Leben.

Was soll man tun, wenn man keine Chance hat, einen Job zu bekommen, weil man nie Lesen und Schreiben gelernt hat? Wenn man tun und lassen musste, was man wollte? Wenn die Eltern nicht da waren und man nichts anderes kennt als das Gesetz der Straße?

Die Gewaltexplosion ist in der Tat keine Neuigkeit. Zur Krise wurde sie lediglich durch ihre Quantität und Dauer. Was bislang schnell wieder verschwunden war, läuft jetzt in Endlosschleife.

Die Bilder haben sich in den Wohnzimmerecken eingenistet und beginnen, Ansprüche zu stellen, vor allem den Anspruch auf Wirklichkeit. "Wir sind da", schreien sie. Mit der abendlichen Dosis Sozialelend ist es nicht mehr getan.

Das Schweigen der "intellectuels"

Weil die Bilder nichts Neues waren, hat die französische Öffentlichkeit auch erst einmal ein paar Tage gebraucht, um das Ausmaß der Revolte zur Kenntnis zu nehmen, und zwar mit einer Mischung aus Bestürzung, verletztem Narzissmus und Ratlosigkeit.

"Was tun?", jammern die Politiker, denen zu dämmern beginnt, dass schnelle Sprüche, Subventionen für die Problemviertel und Beschwörungen des republikanischen Staatsbürgertums nicht reichen. "Was muss die Welt von Frankreich denken?" fragen die Journalisten besorgt.

Besonders auffällig freilich ist das Schweigen der "intellectuels". Angesichts der blinden Gewalt ist ihnen nichts eingefallen. Im Grunde ist ja auch alles schon gesagt: gegen den angelsächsischen Kommunitarismus, die Globalisierung, den Ultraliberalismus, den Rassismus, für den Republikanismus, die egalitäre Schulpolitik, die Laizität, die staatsbürgerliche Integration.

Was soll man noch schreiben zu den Randalierern, die zusammengehalten werden vom wortlosen Hass. Zum Neo-Proletariat oder zu den Vertretern einer friedlichen Multi-Kulti-Welt taugen sie mit ihrem offen zur Schau gestellten Hass gegen Franzosen und Weiße jedenfalls nicht.

Beiderseitiger Rassismus

Es ist nicht sonderlich schwer, die Lebenslügen der französischen Bildungspolitik mitsamt ihrem aristokratischen Elitismus und ihrem fiktiven Egalitarismus, die miserable wirtschaftliche Lage, die verfehlte Wohnungsbaupolitik und die koloniale Arroganz der französischen Gesellschaft für die Randale verantwortlich zu machen.

Es ist auch nicht schwer, das Klima rücksichtsloser Gewalt zu denunzieren, in dem in Frankreich die sogenannten "sozialen Bewegungen" stattfinden, sei es der Bauern, der Lkw-Fahrer oder der Eisenbahner.

Die Rechtfertigungen für die Rechtsbrüche erinnern jedes Mal an die Sätze des "1. Bürgers" aus Büchners Drama "Dantons Tod": "Wir sind das Volk und wir wollen, dass kein Gesetz sei, ergo ist dieser Wille das Gesetz." Diese französischen Besonderheiten spielen sicher eine Rolle.

Dennoch würde man die Gewalt in den Vorstädten verkennen, wenn man sie ausschließlich als innerfranzösische Angelegenheit betrachtete und ihre globale, anti-westliche Dimension außer Acht ließe. Bereits im Frühjahr kam es auf Pariser Schülerdemonstrationen zu Prügeleien, in denen afrikanische und maghrebinische Banden auf Demonstranten einschlugen, ganz einfach, weil sie weiß waren: Kapitalisten, Zionisten, Kolonialisten.

Das von Alain Finkielkraut geprägte Schlagwort vom "anti-weißen Rassismus" machte die Runde, verschwand dann aber mangels politischer Korrektheit rasch wieder aus den Debatten. Man kann trotzdem kaum übersehen, dass die jüngsten Gewaltszenen den Bildern der Intifada gleichen.

Der Hass der Immigrantenghettos richtet sich in der Tat gegen die westliche Welt, in die man sich nicht integrieren kann, weil sie, wie es in einem Text des Rappers Akhenaton heißt, nichts als eine "Bastion des Absurden" ist.

"Nur Gangsta als Identifikation/Das ergibt eine Million/stinkender Schakale, und der Braunhäutige/ist das räudige/Produkt von Rassisten/aus Ländern mit Profitgelüsten."

"Anything goes" als feige Formel

Die Zeilen stammen aus dem Jahr 1995, und man hätte auf sie hören sollen. Sie machen nämlich auf die infernalische Identifikationslogik aufmerksam, denen die sich selbst überlassenen Jugendlichen der Vorstädte ausgesetzt sind.

Zum einen begegnen sie den sozialen Alltagsrassismen, die sie als die Nachkommen prä-moderner "Eingeborener" stigmatisieren, zum anderen dem dogmatisch-libertären "anything goes" der bourgeoisen Zentren, die jede Grenze und Beschränkung für rückständig erklären, natürlich mit Ausnahme der Grenzen, die das Bankkonto setzt.

In beiden Fällen werden die "räudigen Braunhäutigen" aus den modernen Gesellschaften herauskatapultiert, sowohl von den Rassisten als auch von den Libertären. Für Fastenzeiten und Kopftücher haben sie Gelächter, für leere Bankkonten Achselzucken übrig.

Der Psychoanalytiker Pierre Legendre hat für die Weigerung der modernen Gesellschaften, ihren Kindern und Jugendlichen Grenzen zu setzen, einmal den Begriff von der "subjektiven Zerstörung" geprägt und gefragt: "Wie kommt es, dass jemand auf die Seite der Verdammten rutscht? Es genügt, dass er aus dem Munde derjenigen, die ihm Grenzsetzungen schulden, hört, dass die Frage der Beschränkung ihn ganz alleine betrifft und dass es niemanden gibt, der ihm eine Grenze zeigen müsste."

Die Gewalt der Pariser Vorstädte ist die Antwort von Verdammten. Ihre Integration wird nur dann möglich sein, wenn die westlichen Gesellschaften auf ihre Rassismen und ihr frivoles "anything goes" verzichten.

© SZ vom 7. November 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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