US-Präsidentschaftswahl:Aufmarsch der Drachentöter

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Lokaltermin in New Hampshire zum Auftakt der Vorwahlen: Im traditionsreichen Mini-Staat kämpfen die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten um die beste Startposition für den Einzug ins Weiße Haus.

Von Wolfgang Koydl

Hancock, 26. Januar - Steinig ist der Weg, der aus der politischen Wildnis heraus in Weiße Haus führt, steinig, mühselig und verschlungen. Er hat mehr Tiefen als Höhen, er erzwingt Spitzkehren und Kurskorrekturen, und manchmal führt er auch über das Wohnzimmer von Paul Corcoran und seiner Frau Pat. Ein abgetretener Läufer bedeckt die knarrenden Holzdielen, an den Wänden hängen verblasste Aquarelle und chinesische Tuschezeichnungen, und durch die niedrigen Fenster fällt die kalte neuenglische Wintersonne. Die gute Stube ist alles andere als ein Machtzentrum, und Corcoran ist auch kein einflussreicher Broker der Macht. Aber der pensionierte Arzt ist Teil jenes teils skurril, teils archaisch anmutenden Prozesses, in dem die Amerikaner alle vier Jahre entscheiden, wer die Nation und damit die Welt führt.

Gut ein Dutzend Männer und Frauen sind an diesem bitterkalten Nachmittag zu Paul und Pat in ihr Haus in der Main Street von Hancock gekommen. Nur ein paar hundert Seelen leben in dem pittoresken Städtchen, das sich in den welligen Hügeln im Süden des Bundesstaats New Hampshire versteckt. Mit seinen weißen Häusern, dem spitzen Kirchturm und dem historischen Gasthof sieht Hancock aus, als hätte man es eigens für ein Werbeplakat des Fremdenverkehrsverbandes von New Hampshire entworfen.

Seit 1920 macht der Bundesstaat im Nordosten der USA den Anfang mit den Primaries, jenen Vorwahlen, in denen die beiden großen Parteien der Republikaner und der Demokraten ihre Präsidentschaftskandidaten ermitteln. Das Vorrecht wird eifersüchtig verteidigt, auch gegen die Konkurrenz aus Iowa, die eine Woche vorher einen Caucus durchführen darf, eine Parteiversammlung, die aber nicht denselben Stellenwert hat wie eine Vorwahl.

Anders als der Rest

Warum ausgerechnet New Hampshire diesen herausragenden Platz im politischen Kalender einnimmt, ist tatsächlich nicht ganz nachvollziehbar. New Hampshire stellt gerade mal ein halbes Prozent der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten, auch sonst ist das Ländchen alles andere als repräsentativ. Im Gegenteil: New Hampshire war schon immer bewusst anders als der Rest der Nation.

Es war die erste Kolonie, die sich 1776 von England lossagte, und schon damals verzichtete man auf die Todesstrafe. Dafür garantiert die Verfassung jedem Bürger das Recht auf Waffenbesitz und - wohl einzig auf der Welt - auf Revolution: "Die Doktrin des Nicht-Widerstandes gegen willkürliche Macht und Unterdrückung ist absurd, sklavisch und zerstörerisch für Gut und Glück der Menschheit", heißt es in Artikel zehn. New Hampshire kennt keine Einkommens- und keine Mehrwertsteuer, und sein Motto "Live free or die" (Leb' frei oder stirb) schlägt sich unter anderem darin nieder, dass die Anschnallpflicht im Auto nur für Minderjährige gilt.

Solche Leute lassen sich ungern von Außenstehenden dreinreden, und sie bleiben gerne unter sich. Paul Corcoran rät freilich, das Plakat nicht ernst zu nehmen, das die örtliche Feuerwehr vor dem Spritzenhaus aufgestellt hat und auf dem zu lesen ist: "Jetzt wählt schon endlich irgendeinen, damit die ganzen Leute wieder verschwinden." In Wirklichkeit, sagt Paul Corcoran, genießt man die Aufmerksamkeit, die dem Staat alle vier Jahre zuteil wird. "Wir kokettieren nur damit, dass es uns stört, wenn uns all die Politiker ins Haus fallen und wir dauernd interviewt werden. Wer kann schon sonst von sich sagen, dass er fast allen künftigen Präsidenten die Hand gedrückt hat!"

Wahlparty mit Erbsensuppe

Paul und seine Freunde nehmen ihre demokratischen Privilegien ernst, und deshalb bleiben die Erbsensuppe und die belegten Brote fürs erste auch unberührt, die Pat für ihre Gäste vorbereitet hat. Schließlich ist man zusammengekommen, um sich ein Urteil zu bilden über Howard Dean, den Ex-Gouverneur des Nachbarstaates Vermont, der so gut im Rennen zu liegen schien beim Kampf um die Nominierung der demokratischen Partei, bis er beim ersten Wählertest in Iowa plötzlich ins Straucheln geriet.

Eigentlich hätte Dean selber bei der Hausparty vorbeischauen sollen, aber im letzten Moment musste er absagen. Deshalb hockt stellvertretend für ihn ein Mann namens David auf dem Schemel vor dem Baby-Steinway. Der College-Student aus Baltimore arbeitet für die Dean Campaign und soll Fragen beantworten und Zweifel ausräumen. Viel Überzeugungsarbeit muss er freilich nicht leisten, denn Lou und Nancy, Jim und Arthur und all die anderen haben sich eigentlich schon für Dean entschieden. "Der Mann hat in so vielen Punkten Recht", sagt Jim, "da gebe ich einen Dreck darauf, ob er schreit. Es ist höchste Zeit, dass jemand schreit."

Das mit dem Schrei ist freilich so eine Sache, und es ist eine Sache, die Dean mächtig geschadet hat. Nach der Niederlage in Iowa hatte er - wie üblich mit hochgerollten Hemdsärmeln und hektisch gerötetem Gesicht - seine Anhänger mit einem gutturalen Urschrei angefeuert, wie man ihn vom Leadsänger einer Heavy-Metal-Band, aber nicht vom künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten erwarten würde. Amerikas Medien kürten den "Dean Scream" zum Thema der Woche und verknüpften ihn mit der Frage nach der Wählbarkeit Deans.

Von der römischen Senatorenstatue zum knorrigen Naturburschen

Diese Zweifel haben dem Vorwahlkampf in New Hampshire eine neue Wendung gegeben. Dean, der einst als unschlagbar galt, ist in Umfragen abgerutscht. Auch dem von Bill Clinton zur Kandidatur gedrängten Ex-General Wesley Clark, der sich so ungelenk bewegt wie eine dilettantisch geführte Marionette, scheinen die Wähler davonzulaufen. Zuspruch erfährt dagegen Senator Joe Lieberman aus Connecticut, und die großen Gewinner sind die beiden Senatoren John Kerry aus Massachussetts und John Edwards aus North Carolina.

Der neue Favorit Kerry gibt sich mal erhaben wie eine römische Senatorenstatue, mal kumpelhaft wie ein knorriger Naturbursche. Im Eisstadion von Manchester schlüpfte er in einen Hockeydress, und wenn er sich nicht auf seiner Harley oder am Steuerknüppel seines "Kerry-Copter" fotografieren lässt, umwirbt er, der Vietnam-Leutnant, die Veteranen.

Edwards wiederum strahlt Charme, Charisma und Intellekt eines jugendlichen John F. Kennedy aus. Nachdem er in Iowa überraschend den zweiten Platz nach Kerry belegt hatte, beginnen sich immer mehr Wähler für ihn zu interessieren. Einer von ihnen ist Don Provencher, der bisher eher zu Dean neigte. "Bush und seine Leute machen sich in die Hosen vor Angst, wenn sie an Edwards als Gegner denken", versichert er nun mit einem schadenfrohen Kichern, und wenn man es auch im Weißen Haus vermutlich feiner formulieren würde, so ist es doch ein offenes Geheimnis, dass der frühere Star-Anwalt aus North Carolina der Angstkandidat von Bush wäre.

Frieren für Edwards

Provencher wartet schon seit einer Stunde auf einem harten Holzstuhl im Rathaus von Gorham geduldig auf seinen neuen Helden. Bis zu seiner Pensionierung sorgte er als Polizist für Ruhe und Ordnung in der verschlafenen Kleinstadt im Norden von New Hampshire. Hier, hinter dem mächtigen Gebirgsmassiv der White Mountains, blickte man schon immer ein wenig skeptisch auf den Rest des Staates und der Nation hinab. Natur und Neigung erzwangen eine Orientierung nach Kanada. Selbst im Autoradio drängeln sich die französischen Sender aus dem benachbarten Quebec vor die lokalen amerikanischen Stationen.

Klirrend kalt ist es an diesem Morgen, minus 38 Grad zeigt das Thermometer, und dabei ist noch nicht mal der schneidende Wind mitgemessen, der Heather Cable und ihrer Freundin Kimberley Grossman entgegenpfeift. Die beiden Teenager sind aus Virginia und Georgia hier heraufgekommen, um als Freiwillige im Stab von Edwards mitzuarbeiten. Ihre Mäntel, Mützen und Schals sind freilich eher dem milden Winter in den Südstaaten angemessen als dem polaren Klima von New Hampshire.

Dennoch halten sie tapfer ihre Transparente hoch und freuen sich jedes Mal, wenn ein vorbeifahrender Autofahrer hupt. "Sehen Sie", strahlt Heather, "schon wieder einer für Edwards." Das mag übertrieben optimistisch klingen draußen auf der eisigen Hauptstraße, doch drinnen im Saal fliegen Edwards die Herzen seiner Zuhörer zu. Wo seine Konkurrenten mit wundgeschmirgelten Stimmbändern oft nur noch heiser krächzen können, da hat seine Stimme auch nach wochenlangem Einsatz nichts von ihrem samtig-weichen Timbre verloren. "Southern Comfort", nickt anerkennend David Murphy, und er meint damit nicht nur den singenden Südstaatenakzent, sondern auch den wohltuend sanften Tonfall - geschmeidig wie ein Schluck des gleichnamigen Mais-Whiskeys.

Bush als Kinderschreck

Edwards war Anwalt, ein guter Anwalt, und man merkt es ihm an. Sein Publikum ist seine Jury, die er bezaubern und betören, überzeugen und gewinnen will. "Wie oft hat euch jemand gesagt: Das könnt ihr nicht, lasst die Finger davon", fragt er. Viele nicken, alle kennen diese Situation. Dann erzählt Edwards von sich: "Mir hat man gesagt, ich kann als Kind armer Eltern kein Anwalt werden; mir hat man gesagt, ich werde nie einen Prozess gegen die Staranwälte der Groß-Industrie gewinnen; mir hat man gesagt, ich würde nie im konservativen North Carolina den Senatssitz gewinnen."

Edwards muss nicht weiterreden, jeder versteht, was er sagen will: Nein, er ist nicht zu jung und unerfahren für das Weiße Haus, wie seine Gegner behaupten. So wie er bis jetzt alles geschafft hat, was er sich vornahm, wird er auch als Präsident einen guten Job machen.

Bislang freilich sitzt ein anderer am Schreibtisch im Oval Office, und dieser Amtsinhaber ist ein unsichtbarer Gast bei allen Wahlveranstaltungen der demokratischen Bewerber. Obwohl der eigentliche Wahlkampf gegen George Bush erst nach den Parteitagen im Sommer beginnt, und obwohl nur ein Demokrat gegen ihn antritt, ist er schon jetzt die Zielscheibe all ihrer Attacken.

"Bring it on", schleudert Kerry dem Präsidenten dessen eigenen Worte entgegen: "Komm du nur her." Clark verspricht: "Ich trete nicht an, um nur auf den Bush zu klopfen, ich trete an, um ihn zu ersetzen." Edwards zieht jede Silbe des Namens "Dschooordsch Daaabblejuuh Buuuush" so in die Länge, als ob er Kinder mit dem schwarzen Mann schrecken wollte. Und selbst der nette Herr Lieberman hält sich für den einzigen Bewerber, der Bush angsterfüllte Nächte bereiten kann.

Die Stimmung an der Basis

Die Abneigung gegen Bush überlagert alle Pläne, Programme und Positionspapiere zu Sachfragen. Gesundheitsreform und Irakkrieg, Staatsdefizit und die Aushöhlung bürgerlicher Rechte - das mögen wichtige Themen sein, aber sie verblassen vor dem einen Ziel: Bush muss weg. Dies ist die Stimmung an der Basis, die Howard Dean als erster für sich zu nutzen verstand. Heute versucht sich jeder Kandidat als der tapferste Drachentöter darzustellen.

Im Partei-Establishment hat man erkannt, welche Gefahren das birgt: "Die Demokraten erkennen nicht, dass sie für die Wahlen eigentlich noch nicht bereit sind", vertraute unlängst ein ehemaliger Berater Clintons dem Nachrichtenmagazin Time an. "Sie glauben, dass Bush-Hass schon eine Vision ist. Aber das ist nicht der Fall."

In Paul Corcorans Wohnzimmer sind solche nüchternen Analysen nicht willkommen. Alle murmeln zustimmend, als Donna mit stockender Stimme erzählt, wie sie den Ärger über die "gestohlene Wahl" von 2000 noch immer nicht verwunden habe. "Ich will nur Bush weghaben, dafür würde ich unbesehen für jeden stimmen." Aber welchem Kandidaten könnte dies gelingen? Keinem, glaubt Robert Kunst, und deshalb hat er ("Ich muss ein Vollidiot sein!") sein Haus am frühlingshaft milden Strand von Miami Beach mit dem schneidend frostigen Marktplatz von Portsmouth an der Küste von New Hampshire vertauscht.

Einsam und verloren steht er da mit seinem Transparent. Denn er wirbt für eine Kandidatin, die gar nicht auf dem Wahlzettel steht, die aber nach seinem Willen von den Wählern nachträglich hinzugefügt werden soll: Hillary Clinton. "Nur sie kann uns retten", sagt Kunst und zieht sich die Pudelmütze noch tiefer in die Stirn. "Warten Sie ab: Sie wird die Kandidatin und kein anderer."

© SZ vom 27.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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