Unterwegs am Oberlauf der Themse:Leben im Rhythmus der Schleuse

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Bob Williams regelt das Auf und Ab des Wassers - und kann sich keinen schöneren Job vorstellen

Von Stefan Klein

SZ vom 07.08.2003 - Kann es sein, dass Bob Williams der glücklichste Arbeitneh-mer ist im Königreich? Zumindest einer der glücklichsten? Wäre es so, dann läge das paradoxerweise daran, dass er sich gar nicht als Arbeitnehmer empfindet, jedenfalls nicht als einer im klassischen Sinn. "Noch nie", sagt Williams, sei er morgens mit dem Gedanken aufgewacht: "Mist, du musst ja raus und an die Arbeit." Im Gegenteil: der Mann freut sich auf seinen Job, jeden Tag neu. Er liebt die Abwechslung, das Ungewisse, vor allem aber liebt er diesen ersten Blick am Morgen seinen Fluss hinauf, und sage bitte keiner, es sei nicht seiner. Sicher ist es seiner: Hier im Bereich der St.-Johns-Schleuse gehört die Themse nur einem, und das ist ihr Wärter Bob Williams.

Dieser erste Blick am Morgen: ein Schnuppern, ein Fühlen, ein Prüfen, ein Genießen. Stromaufwärts schaut Schleusenwärter Williams, nicht abwärts, denn Richtung Quelle geht die Sicht viel weiter. Was er sieht, mag ein silbriges Glitzern sein, das sich irgendwo im Ufergrün verliert, eine tintige Ader, behäbig, träge - je nachdem, wie der Himmel ist und wie das Licht. Kurz, kein Bild gleicht dem anderen. Manchmal wechselt es in Minutenschnelle und Bob Williams hat auch nach 19 Jahren noch nicht aufgehört, darüber zu staunen. Er ist ein Mann, der das Wasser braucht, um froh zu sein, und deshalb war es auch nur folgerichtig, dass er vor vielen Jahren als junger Mensch bei der königlichen Marine landete.

Bob Williams hat die Meere dieser Welt gesehen, aber irgendwann war Schluss, und plötzlich fand er sich in einer Fabrik für Navigationsinstrumente wieder - eine Wasserratte, gestrandet in einem Ort namens Cheltenham. Und wer weiß, vielleicht wäre es so weitergegangen, mehr schlecht als recht, ein Leben voll unerfüllter Sehnsucht, wenn nicht seine Frau eines Tages im Cheltenham Echo eine Anzeige gesehen hätte. Da ist ein Job angeboten, sagte sie zu ihrem Mann, der könnte Dir gefallen. Klar, Flusswasser ist nicht Meerwasser, ein spielerisch mäanderndes Flüsschen nicht vergleichbar mit einem Ozean, aber Wasser ist Wasser. Williams bewarb sich für den Posten eines Schleusenwärters am Oberlauf der Themse, und bekam ihn.

Ordnung und Stil

Anfangs war er ein "wandernder" Schleusenwärter, einer, der einsprang, wenn ande-re ihre freien Tage oder Urlaub hatten. Aber seit 1992 hat Williams seine eigene Schleuse. St. Johns ist die erste Schleuse auf dem 344 Kilometer langen Weg der Themse von der Quelle bis zur Mündung - die erste und damit auch die höchste. Sie ist nur 35 Kilometer von der Quelle entfernt und sie stammt aus jenen Zeiten der industriellen Revolution, als die Themse noch eine bedeutende Handelsroute und ein wichtiges Bindeglied war im nationalen Netz der Wasserwege. Inzwischen ist sie längst ein Freizeitgewässer und fest im Griff jener Haus- und Ferienboote, von denen jetzt gerade eines mit dem Namen "Josephine" in die Schleusenkammer gleitet, um den Höhenunterschied von einem Meter zu überwinden.

So wie alle anderen Schiffe, die hier vorbeikommen, wird die "Josephine" im Fahrtenbuch registriert - Uhrzeit, Fahrtrichtung, Lizenznummer -, alles muss seine Ordnung haben auf einem "Queen's Highway", und Stil haben muss es auch. Wenn Williams morgens kurz vor neun in seinem Haus in das kleine Vorderzimmer wechselt, das auf den Fluss hinausgeht und das Schleusenwärter-Büro darstellt, dann ist er eine Respektsperson, von den glänzenden schwarzen Schuhen bis zur Kapitänsmütze, und an der schwarzen Krawatte hat er ein Schild stecken mit seinem Namen. Erste Amtshandlung ist stets das Ablesen des Wasserstands, denn davon hängt ab, wie Williams das Wehr ein Stück weiter flussabwärts einstellt. Ein Minimum von einem Meter Wassertiefe hat er in seinem Bereich zu garantieren, und entsprechend weit zu hielt er die Tore im Juni und Juli, als es für englische Verhältnisse ungewöhnlich trocken war.

Ganz anders im letzten November. Das ist traditionell ein feuchter Monat, aber im letzten Jahr war es ganz besonders arg. In der Geschichte von Pu dem Bären gibt es ein Kapitel, da wird eine Überschwemmung geschildert, und es trägt die Überschrift "Pu ganz von Wasser umgeben", und so in etwa wird man sich den Bob Williams im letzten November vorstellen müssen. Da war kein Glitzern im Ufergrün beim morgendlichen Blick die Themse hinauf, kein tintig-behäbiges Fließen, da war nur Wasser, Wasser, Wasser - Wasser, so weit das Auge reichte. Zwei Meter Wassertiefe, doppelt so viel wie normal, die Schleuse fast überflutet, und ihr Wärter nicht im Zwirn der Respektsperson, sondern im Ölzeug, in Gummistiefeln und mit Rettungs-weste. Über dem, was von der Schleuse übrig war, das rote Schild, das Warnschild: "Caution - strong stream."

So war das, ein Flüsschen, das plötzlich seine Muskeln spielen ließ, eine kleine De-monstration der Macht abhielt, aber der Bob Williams wusste auch schon vorher, dass man sich von dem normalerweise so unschuldigen Erscheinungsbild der Themse nicht täuschen lassen darf. Ein Fluss, pflegt er zu sagen, der Leben gibt, aber auch Leben nimmt. Schon öfter ist es vorgekommen, dass Williams Wasserleichen zu bergen hatte, aber auch wenn es nicht gerade Tod und Verderben sind, die die Themse bringt, so ist sie doch immer für eine Überraschung gut. Vor zehn Jahren, in einem ungewöhnlich strengen Winter, fand Williams am Neujahrstag die Wasserfläche zugefroren. Da musste er mit der Spitzhacke raus zum Wehr, das Eis aufhacken, um den Durchfluss zu gewährleisten.

Magischer Strom

An einem sommerwarmen Juli-Tag klingt das wie eine Geschichte aus einer anderen Welt. "Guck doch nur", sagt Williams und zeigt auf das Bild vor dem Fenster seines Büros, "kann man sich etwas Friedlicheres vorstellen?" Ein paar Ruderer sind gerade in der Schleuse, junge Leute vom königlich-holländischen Ruderklub, die schon öfter hier vorbeigekommen sind. Williams kennt sie und winkt ihnen zu, als ihre Boote, vom steigenden Pegel geliftet, hinter der Beckenwand auftauchen. Das Bewegen der Schleusentore überlässt er seinem Assistenten Chris. So ist es, das kleine Paradies des Schleusenwärters Williams: Ein Job, der gar kein Job ist, sondern, wie sein Bewohner das nennt, ein "way of life", für die Hauptsaison im Sommer einen willigen Helfer, und für all das auch noch eine regelmäßige Bezahlung.

Es ist dies ein Glück, für das manch einer eine Karriere aufgibt. Einer wie Adrian Swift. Der war Bank-Angestellter, heute ist er Bob Williams' Boss. Statt Leuten unsinnige Kredite aufzuschwatzen, kaufte der sich 1988 ein Boot und befuhr Englands Wasserwege - sechs Jahre lang. Dann bewarb er sich als Aushilfsschleusenwärter, diente sich hoch und ist heute im Auftrag der Umweltbehörde Herr über die Themse von der Quelle bis zur Rushey-Schleuse. Das sind 48 Kilometer, fünf Schleusen und zehn Schleusenwärter. Groß motivieren, anspornen muss er die nicht. Es sind alles Leute, die wie Williams ihren Beruf lieben und ihn, sagt Swift, "bestimmt nicht wegen des Geldes machen", sondern weil es einfach schön ist, mit einem Fluss zu arbeiten, von dem Chris, der Assistent, sagt, er habe etwas "Magisches".

Chris hat sein eigenes Boot, Bob hat sein eigenes Boot, Adrian hat sein eigenes Boot, denn auch in ihrer Freizeit mögen sie nicht von ihrem Fluss lassen, der allen etwas zu bieten hat - den Weiden eine Wasseroberfläche zum Streicheln, den Badenden frisches, klares Wasser für ihr Schwimmvergnügen, Ottern einen Lebensraum, den Anglern ihre Barsche, Karpfen und neuerdings auch wieder Lachse, und den zwei alten Leutchen dort drüben in ihrem Boot eine schattige Uferstelle für ihr Picknick. Bilder wie von alten Postkarten. Adrian Swift sagt, der Fluss habe seine Möglichkeiten als Freizeitgewässer noch gar nicht voll ausgeschöpft. Mit 25.000 registrierten Booten sei die kritische Grenze längst nicht erreicht.

Der erste milde Tag

Und so mag denn "Father Thames", wie man den Fluss auch nennt, noch tiefer hineinfließen in die englische Freizeitgesellschaft, mag eines Tages, wenn es nach Swift geht, gesäumt sein von einem dichten Spalier von Dusch- und Toilettenhäuschen - denn besser als die Schlachten, die in grauer Vorzeit an seinen Ufern geschlagen wurden, ist das allemal. Williams wird zu dieser Entwicklung noch ein bisschen beitragen. Mit 57 Jahren ist er von der Pensionsgrenze noch ein Stück weit entfernt. Aber allein der Gedanke daran erfüllt ihn mit Grauen. Er weiß jetzt schon, dass er das Leben im Rhythmus seiner Schleuse vermissen wird: Vier Minuten dauert es, die Schleusenkammer zu füllen, sieben, um ein Boot durchzuschleusen.

Adrian Swift liebt den Fluss am meisten im Winter - kahle Bäume, Nebel auf dem Wasser. Für Chris, den Assistenten, zählt nur der erste milde Tag, wenn er endlich wieder sein Boot flott machen kann. Und Bob Williams? Der sagt, er freue sich auf alle Jahreszeiten. Jede habe ihren ganz eigenen Reiz - außer, wenn das Wetter "wirklich schrecklich ist". Im Winter sieht er manchmal zwei, drei Wochen kein einziges Boot. Da beschäftigt er sich dann mit Maler- und Reparaturarbeiten, denn die Schleuse muss ja gut in Schuss sein für den Ansturm im Sommer, wenn bis zu 150 Boote am Tag hier durchkommen. Boote wie die "Pearly Gates", welche eine weiße, schnittige Motoryacht ist. Ein Mann und eine Frau stehen auf Deck, beide in Shorts, der Mann mit tätowiertem Oberkörper. Williams begrüßt sie freundlich. Er kennt sie seit langem. Dann stemmt er sich gegen den langen Balken, um die Schleusenkammer zu schließen. Kein Job, wie gesagt, sondern ein kleines Glück, versteckt an einem Fluss.

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