UN-Hochkommissar:Tiefe Armut in den Flüchtlingslagern

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Wer ist schuld an der Flüchtlingskrise? Die reichen Länder, sagt UN-Hochkommissar Guterres. Weil kein Geld da war, habe sich die Situation in den Flüchtlingslagern verschlechtert.

Von Stefan Braun, Berlin

Antonio Guterres ist nicht dafür bekannt, sonderlich diplomatisch aufzutreten. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge reist von jeher um die Welt, um Regierungen, Hilfsorganisationen und manchmal auch den Militärs klar zu sagen, was er sich zum Schutz von Flüchtlingen von ihnen erwartet. So konkret wie diesmal ist er freilich selten aufgetreten. Pünktlich zu einem Besuch in Berlin am Mittwoch sagte der Spitzendiplomat der Vereinten Nationen, es sei die Ignoranz der reichen Länder, die für die jüngste Flüchtlingswelle verantwortlich sei. Schuld an der Massenankunft am östlichen Mittelmeer seien die ausbleibenden Zahlungen der Mitgliedstaaten und der Mangel an humanitären Mitteln für die Flüchtlinge, so Guterres.

Dass die Halbierung der Lebensmittelrationen in den Flüchtlingslagern seit dem Sommer ein großes Problem ist, wurde schon öfter thematisiert. So klar ausgesprochen hat es aber erst Guterres. Die meisten der vier Millionen Syrien-Flüchtlinge in den Lagern in Libanon und Jordanien hätten deshalb inzwischen ihre Ersparnisse aufgebraucht; 70 Prozent der Syrer in Libanon und 86 Prozent derer in Jordanien lebten mittlerweile in tiefer Armut. Die Botschaft des 66-jährigen Portugiesen: Wundert euch nicht, dass diese Menschen sich jetzt auf den Weg machen.

Die reichen Staaten versprachen den UN 1,6 Milliarden Euro. Guterres sagt: Das reicht nicht

Am Mittwoch kam Guterres mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zusammen. Mit dem Generalsekretär der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung, Elhadj As Sy, dem Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration, William Swing, und dem UN-Sonderbeauftragten Peter Sutherland berieten sie darüber, wie eine Wiederholung der jüngsten Probleme verhindert und Krisen künftig früher erkannt und bekämpft werden könnten. Steinmeier betonte, es trage groteske Züge, dass das Welternährungsprogramm die Lebensmittelrationen in den Lagern halbieren musste und auch sonst viele Mittel fehlten. Steinmeier hatte während der UN-Vollversammlung Ende September den G-7-Vorsitz der Deutschen genutzt, um bei den reichen Staaten ans Gewissen zu appellieren. Danach kamen 1,6 Milliarden Euro zusätzlich zusammen. Guterres und Steinmeier betonten jedoch, ohne weiteres Geld werde man damit kaum über den Winter kommen. So kritisch das Urteil über das Verhalten vieler anderer Staaten ausfällt - Berlin erntete bei Guterres und seinen Kollegen am Mittwoch viel Lob. Der UN-Hochkommissar erklärte, er sei "tief beeindruckt" von Deutschlands Führung und Mut in der Krise. Zugleich kritisierte er jene EU-Staaten, die sich einer echten Solidarität entziehen würden. "Das ist keine deutsche Krise, das ist eine europäische Krise und verlangt eine europäische Antwort", sagte Guterres. Mit Blick auf die Schlepper rief Guterres alle Staaten auf, endlich zusammenzuarbeiten, um deren Treiben zu beenden. Der UN-Sondergesandte Sutherland dankte Berlin für ein "unglaublich großartiges Vorbild", das Deutschland in dieser "größten Herausforderung unserer Zeit" abgebe. Und William Swing, der Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration, lobte den Mut und die Weitsicht, vielen Menschen in Not "Herz und Geldbeutel zu öffnen", um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Inzwischen ist klar, dass die Fluchtbewegungen 2015 mit weltweit mehr als 60 Millionen Flüchtlingen alles sprengen, was die UN und die Hilfsorganisationen je erlebt haben. In den letzten zwölf Monaten mussten die UN gleich vier humanitäre Großkrisen in die intern höchste Kategorie 3 einstufen. Auch deshalb entschied der Haushaltsausschuss des Bundestages am Mittwoch, den UN noch mal 75 Millionen Euro Soforthilfe zu gewähren.

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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